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  • 30.07.2024: Augustinum Königstein, „Unter der Glückshaube“

TAR,Nullpunkt: Kino- und Lesetipp

01 Apr
1. April 2023

293/2023
Guten Tag,
der Film TAR ist noch in den Kinos. Geht hin, bevor er verschwindet. Der Film war kein großer ökonomischer Erfolg. Dafür ist er zu sperrig. Die Geschichte der Dirigentin TAR (Cate Blanchett), die Chefin der Berliner Philharmoniker wird, ist so vielfältig und widersprüchlich, dass ich beim zweiten Kinobesuch genauso viel Neues gesehen und gehört habe wie beim ersten. Das ist Kunst. Keine Kunst ist präsent ohne Nachhall und Geheimnis. In einer der Schlüsselszenen unterrichtet TAR eine angehende Dirigentenklasse und nimmt sich dort einen jungen Mann vor, der versucht, sich ihrem Charisma zu entziehen. Streitpunkt wird Johann Sebastian Bach. Der junge Mann findet, dass er wenig Neigung verspürt, die Musik eines so alten weißen Mannes zu dirigieren. Sie macht ihm in heftiger Weise klar, dass er als Dirigent nicht an der Biografie von Bach gemessen wird, sondern daran, was er aus dem Werk macht. Der junge Mann verlässt wortlos den Raum. Zu viel Aggression für eine „Generation beleidigt“ (Caroline Fourest). Es passiert, was neuerdings verlässlich passiert: die Szene, zugeschnitten und zugespitzt, erscheint als Video in den sozialen Netzen. Das Echo kann man sich denken. Kann sich auch denken, dass genau Szenen wie diese das Oscargremium daran gehindert haben, die nominierte Cate Blanchett auszuzeichnen. Was hätte das wieder für aufgeregte Debatten gegeben.

Ein Freund hat mir das knapp 200 Seiten Buch von Artem Tschech, Nullpunkt, empfohlen. Ich empfehle es weiter. Der Autor ist ein Intellektueller aus Kiew, der 2015 für ein Jahr an der Donbass Front gedient hat. In knappem präzisem Stil beschreibt Tschech, wie dieses Jahr ihn und seine Kollegen aus dem Schützengraben verändert hat: „Wir sehen den Krieg, wie er ist. Und wir sehen uns selbst so, wie wir sind. Schnapsdurchtränkt, vom Winde verweht, verbrannt, verroht, meist apathisch mit entzündeten Augen, entzündetem Zahnfleisch, gut geräuchert, mit langsamen Bewegungen, scharfem Blick und extremen Ansichten. Durcheinander und durchgedreht.“ Man versteht, warum das Minsker Abkommen von 2015 für die Ukraine so wichtig war. Es hat ihr Zeit gegeben, aus einer verrotteten, verlassenen Truppe eine Armee mit Ausbildung, Willen und Vision zu machen.
Mit besten Grüßen
Henning v. Vieregge

Nicht nur an die Terroropfer von rechts erinnern- Ein Leserbrief

01 Mrz
1. März 2023

292/März 2023
Guten Tag, mein Freund Max Steinacher gehört in Tübingen zu den Menschen, die sich seit dessen Einkerkerung wöchentlich in Mahnwachen für die Freilassung von Raif Badawi einsetzen.
In einem Leserbrief an die dortige Lokalzeitung hat sich Max anlässlich einer Gedenkdemonstration in seiner Heimatstadt für die Opfer von Hanau dafür eingesetzt, dass die Erinnerungskultur breiter aufgestellt sein sollte. Die Opfer islamistischer Gewalt dürfen nicht ausgeklammert werden. Auch für sie sind Gedenkdemonstrationen bei Jahrestagen u.ä. richtig und wichtig.
Was den Täter von Hanau betrifft, zitiert Steinacher einen führenden forensischen Gutachter, der den Täter für eine psychisch tief gestörte Persönlichkeit hält. Das würde bedeuten, dass es sich hier um einen Einzeltäter handelt und die Ausrichtung des Gedenkens überdacht werden müsste.

Sehr lesenswert!
Mit herzlichen Grüßen
Henning v. Vieregge

Samstag, 25. Februar 2023
Seite 31
Tübinger Chronik
Leserbriefe
Nicht vergessen
Max Steinacher, Tübingen
In Tübingen gedachten rund 200 Menschen der Opfer eines Rassisten in Hanau vor drei Jahren.
Am dritten Jahrestag des Anschlags von Hanau wurde an die neun Opfer erinnert („Gegen den in der Gesellschaft verwurzelten Rassismus“). Ja,wir dürfen die Opfer nicht vergessen.
Auch nicht die zwölf Menschen, die am 19. Dezember 2016 auf dem Breitscheidplatz in Berlin ihr Leben verloren, die 193 Toten vom Atocha-Bahnhof in Madrid, die 86 Toten von Nizza, die 89 Toten vom Bataclan-Theater, Samuel Paty und viele andere. Die Täter: Rassisten, Islamisten oder was?

Tobias Rathjen, der 43-jährige Mörder von Hanau, hinterließ eine Videobotschaft auf seiner Website, in der er sich an das amerikanische Volk wandte. Er warnte vor unsichtbaren Geheimgesellschaften, die ihr Land kontrollierten. In Untergrund-Militärbasen werde der Teufel angebetet,kleine Kinder missbraucht und getötet.
Hans-Ludwig Kröber, einer der renommiertesten deutschen forensischen Gutachter, hat in der „Zeit“ vom 23. April 2020 ausführlich die Persönlichkeit des Mörders analysiert. Er fasst zusammen: „So imponiert das Geschehen eher als ein finaler psychotischer Amoklauf denn als ein ideologisch motivierter Terroranschlag (…) Rathjen gehört zu der kleinen Minderheit schizophren Erkrankter, die gefährlich werden, wenn sie unsichtbar und unbehandelt bleiben.“

Endlich gefunden: Eine universal einsetzbare Aussage, die nichts aussagt

24 Feb
24. Februar 2023

291/Februar 2023
Guten Tag,

ich habe heute der hiesigen Zeitung (AZ vom 24.2.2023) im Mainzer Lokalteil eine Textpassage des Pressesprechers der städtischen Pressestelle gefunden, die geeignet ist, universal eingesetzt zu werden, wenn eine Anfrage nicht beantwortet werden kann oder darf. Es wäre sträflich, diesen Text nicht zu allseitigem Gebrauch zur Verfügung zu stellen. Er lautet:

„In diesem Bereich sind vielfältige Akteure involviert und es finden derzeit Kooperationsgespräche zur Optimierung der Abläufe unterschiedlicher Beteiligter statt, um effizient und abgestimmt zu agieren. Daher ist es derzeit zu früh, um Näheres auszuführen.“

Man beachte den Einsatz von Fremdwörtern und die Länge der Erklärung, an deren Ende keine Aussage steht. Auf diese Weise kann aber den Nachfragern klar gemacht werden, dass es sich die zahlreichen Beteiligten keineswegs einfach machen und es am besten ist, nicht so rasch die Frage zu wiederholen. Insbesondere im öffentlichen Sektor ist es wichtig, jegliche Festlegung insbesondere zeitlicher oder preislicher Art zu vermeiden, weil die Erfahrung lehrt, dass sich derartige Festlegungen infolge stets überraschend auftauchender Schwierigkeiten sehr rasch als voreilig erweisen.

Mit besten Grüßen
Henning v. Vieregge
P.S. Der Pressesprecher der Stadft Mainz verdient eine Auszeichnung durch den PR-Verband.
Nachtrag
Mein Freund Uli-Schulte-Döinghaus hat mir folgende wunderbare Ergänzung zum obigen Beitrag geschrieben:
Lieber Henning, ich habe den Sprachroboter ChatGPT gebeten, den Text in verständliche Sprache zu übertragen. Der Roboter hat das gut und blitzschnell erledigt:
„Viele Leute arbeiten an diesem Thema. Sie wollen besser zusammenarbeiten. Sie reden gerade darüber, wie sie das machen können. Deshalb kann ich noch nicht mehr dazu sagen.”
Man muss annehmen, dass die naheliegende Empfehlung an Pressesprecher (m,w,d), sich zukünftig vor Aussendung von Erklärungen des Sprachcomputers zu bedienen, der Komplexität der Anforderungen in einer Staatsbürokratie in keinster (beliebte Steigerungsform) Weise gerecht wird.(Datenschutz, Personalrat,amerikanisches Unternehmen, nicht ausreichend erprobtes Instrument usw.)

Oberbürgermeister-Wahl in Mainz: Warum gibt es nur diese Kandidaten?

17 Jan
17. Januar 2023

290/2023
Guten Tag,
der Wikipedia – Eintrag über Mainz liest sich im Einstiegstext wie folgt:
Mainz sich (lateinisch Mogontiacum) ist die Landeshauptstadt des Landes Rheinland-Pfalz und mit 217.556 Einwohnern zugleich dessen größte Stadt. Mainz ist kreisfrei, eines der fünf rheinland-pfälzischen Oberzentren und Teil des Rhein-Main-Gebiets. Mit der angrenzenden hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden bildet sie ein länderübergreifendes Doppelzentrum mit rund 500.000 Einwohnern auf 301,67 Quadratkilometern. Im Verbund mit den jüdischen Gemeinden der oberrheinischen Städte Speyer und Worms wurden die Monumente dieser SchUM-Städte am 27. Juli 2021 in das UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen. Die zu römischer Zeit gegründete Stadt ist Sitz der Johannes Gutenberg-Universität, des römisch-katholischen Bistums Mainz sowie mehrerer Fernseh- und Rundfunkanstalten, wie des Südwestrundfunks (SWR) und des Zweiten Deutschen Fernsehens (ZDF). Mainz ist eine Hochburg der rheinischen Fastnacht.
Mainz gilt zu Recht als eine liebenswerte Stadt. Und zudem unverhofft als eine Stadt mit Aufstiegschancen, zu verdanken Biontechs Erfolg weltweit, der die Stadt aus ihrem Schuldenverlies befreit. Kürzlich kam ihr der Oberbürgermeister abhanden und zwar ebenso unverhofft. Michael Ebling (SPD) nutzte den Rücktritt des bisherigen rheinland-pfälzischen Innenministers zum lange angepeilten politischen Aufstieg. Die Parteien in Mainz mussten also Kandidaten finden. Ich habe im Leserbrief in der lokalen AZ die These aufgestellt, dass die Nominierten allesamt nicht den Anforderungen entsprechen, die an diese Position zu stellen ist. Es gibt zwei Möglichkeiten der Erklärung. Entweder sind die Parteien nicht in der Lage, geeignete auch auswärtige Kandidaten zu finden oder sie sind nicht willens. Beides ist problematisch. Am Geld kann es eigentlich nicht liegen, denn alleine das Grundgehalt des Mainzer OB liegt bei 10.000 € monatlich. Oder sind immer weniger Persönlichkeiten bereit, sich einer solchen Aufgabe zu stellen? Sie verlangt Einsatz rund um die Uhr und große Nehmerqualitäten. Unfreundlicher Umgang, mangelnder Respekt vor Menschen in Verantwortung haben auch die lokale Ebene erreicht. Zu untersuchen wäre, ob die Kandidatensituation in Mainz ein Ausreisser ist oder Beispiel einer Entwicklung. Letzteres wäre sehr bedenklich.Für Mainz bleibt zu hoffen, dass der Gewinner der Wahl aus Potential Qualität entwickelt.
Mit herzlichen Grüßen
Henning v. Vieregge

Was 2023 zu tun ist: Deutschland braucht das soziale Pflichtjahr! Ein Gastbeitrag und nun ein weiterer Befürworter

05 Jan
5. Januar 2023

289/2023
Guten Tag,
die Silvesternacht war nicht für jeden vergnüglich. Polizisten, Feuerwehrleute und Sanitäter wurden teilweise, besonders in Berlin, heftig attackiert. Jetzt passiert, was immer passiert. Die einen fordern strengere Strafen, die anderen weisen darauf hin, dass die Bestrafungsmöglichkeiten ausreichen, sie müssten nur angewendet werden. Es handle sich um kein Integrationsproblem, es handle sich um ein Integrationsproblem von Jugendlichen, die sich nicht integrieren wollen. Man kann dies verallgemeinern, man kann dies nicht verallgemeinern. Zaghaft taucht eine Forderung auf, die seit Jahren vorgetragen wird, ohne dass sie auf der politischen Agenda bisher eine Chance hätte: die nach einem sozialen Pflichtjahr. Hätten rabiate Jugendliche anders gehandelt, wenn sie Erfahrungen bei der Feuerwehr oder mit Sanitätern gesammelt hätten? Wären sie gegen andere Jugendliche von sich aus eingeschritten mit einer solchen Erfahrung? Niemand weiß es. Aber Stephan Grünewald, Gründer des renomierten Rheingold- Meinungsinstituts, hatte schon kurz vor Weihnachten, also unabhängig von den Vorfällen der Silvesternacht, nochmals den Versuch gemacht, das Thema „Soziales Pflichtjahr“ zu pushen. Hat es nun endlich eine Umsetzungschance?
Mit herzlichen Grüßen
Henning v. Vieregge

P.S.Der nachfolgende Text erschien am 25.12.2022 als Meinungsbeitrag einer Serie im The Pioneer unter der Überschrift „Was 2023 zu tun ist: Deutschland braucht das soziale Pflichtjahr!

Nachtrag 6.1.2023 Meinungsbeitrag in:The Pioneer
Der SPD-Bundestagsabgeordnete Sebastian Fiedler sich ebenfalls für ein soziales Pflichtjahr ausgesprochen. Er sitzt seit 2021 im Bundestag. Zuvor war er drei Jahre lang Vorsitzender des Bundes deutscher Kriminalbeamter.Er meint:Der Anstoß von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier für die Einführung sozialer Pflichtzeiten ist keinesfalls die Lösung aller dieser Probleme. Es gibt aber Anknüpfungspunkte. Bitte scrollen. Der Beitrag ist hinter Gründewalds Beitrag.

Meinungsbeitrag Stephan Grünewald

Ein soziales Pflichtjahr stärkt den gesellschaftlichen Zusammenhalt und das Wir-Gefühl, aus psychologischer Sicht eine der wichtigsten Aufgaben für die nahe Zukunft.
Denn in vielen Studien stellen wir fest, dass die Angst vor einer zunehmenden gesellschaftlichen Entzweiung und dem damit verbundenen sozialen Klimawandel wächst. Vor allem in den Pandemiejahren hat das Wir-Gefühl großen Schaden erlitten. Viele Menschen haben sich in ihr privates Schneckenhaus zurückgezogen und die Kontaktpunkte zu der Welt da draußen reduziert.
Ein soziales Pflichtjahr kann der daraus resultierenden Selbstbezüglichkeit und Weltfremdheit wirkungsvoll begegnen, denn es eröffnet jungen Menschen einen anderen Blickwinkel auf das Leben in Deutschland. Sie verlassen ihren kleinen Kosmos und kommen mit wildfremden Leuten aus den verschiedensten sozialen Milieus zusammen.
Den Jugendlichen wird so bewusst, dass es Menschen gibt, die ganz andere Nöte haben oder aus einem anderen kulturellen Kontext kommen. Diese Horizonterweiterung ist vor allem wichtig, weil der Sozialisationsraum Schule schon nach vier Jahren einer Separationslogik folgt und zu einer Verengung des sozialen Gefüges führt: Am Gymnasium oder auf der Realschule sind die Schüler überwiegend mit ihresgleichen zusammen.
Auch die sozialen Medien forcieren, dass der Blick nur noch auf die eigene Blase gerichtet und mehr und mehr das Verständnis für Andersdenkende und Anderslebende verloren geht.
Eine demokratische Gesellschaft braucht daher ein erweitertes Inzest-Tabu – also die Aufhebung einer selbstbezüglichen, durch die sozialen Medien noch geförderten sozialen und mentalen Inzucht. Ein soziales Pflichtjahr greift damit das Konzept der Lehr- und Wanderjahre auf.
Der Ausbruch aus der wohlvertrauten Enge von Familie, Schule und Umgebung ermöglicht es erst, andere Wirklichkeiten und Gepflogenheiten kennenzulernen und zu verstehen. Der damit verbundene Perspektivwechsel und die Auseinandersetzung mit fremden Lebenswelten bedeutet nicht nur eine Erziehung zur Toleranz, sondern auch einen Schritt zur persönlichen Reife.
Das Pflichtjahr wird auch zu einer biographischen Entlastung junger Leute führen.
Denn der Druck, der auf ihnen lastet, ist groß – gerade weil sie in einer Welt leben, die ihnen viel ermöglicht: Sie haben tolerante Eltern und – jenseits der prekären Verhältnisse – meist eine gute materielle Grundausstattung.
Dadurch wächst der Anspruch an sich selbst etwas ganz Besonderes zu werden. Mittelmaß oder Durchschnittlichkeit wird beinahe zwanghaft aus der Lebensplanung ausgeschlossen.Zudem müssen Jugendliche durch die verkürzte Schulzeit jetzt schon mit 17 entscheiden, wohin es im Leben gehen soll. Das schürt nicht nur einen immensen Konkurrenzdruck, sondern führt auch zu einer strukturellen Überforderung angesichts eines dauernden Gefühls latenten Ungenügens.Das Pflichtjahr schafft so durch einen begrenzenden und bestenfalls erdenden Aufgabenbereich ein produktives Moratorium, in dem der eigene Berufswunsch reifen kann.
Als Argument gegen das Pflichtjahr wird oft angeführt, dass der Vorschlag zur Unzeit kommt, da den Jugendlichen durch die Auflagen und Beschränkungen der Corona-Zeit doch schon genug zugemutet worden sein.
Eine für den Stern durchgeführte Jugend-Studie öffnet in seinen alarmierenden Ergebnissen jedoch den Blick auf die sozialen Spätfolgen der Corona-Zeit.
Fast die Hälfte der befragten Jugendlichen beschreiben, dass sie nach den Coronajahren Angst haben, mit anderen in Kontakt zu treten.
© ThePioneer
Es besteht also ein gravierender sozialer Nachschulungsbedarf. Bereits in der Schule sollte daher im nächsten Jahr die Etablierung eines neuen Miteinanders Priorität haben. Mehr Klassenfahrten, mehr Schulfeste und der gemeinsame Austausch über die seelischen Auswirkungen der multiplen Krisen: Was macht der Krieg mit euch? Welche Spuren hat Corona hinterlassen?
Ein soziales Pflichtjahr mit einer angemessenen Bezahlung unmittelbar nach dem Ende der Schulzeit bietet darüber hinaus den zeitlichen und organisatorischen Rahmen wieder – jenseits von Konkurrenzdruck und Turboeffizienz – kontaktfähiger und kontaktfreudiger zu werden.

Meinungsbeitrag Sebastian Fiedler

Das Ausmaß der Gewalt in der Silvesternacht ist schockierend, kommt aber nicht vom Himmel gefallen. Schon seit Jahren zeigt sich, dass Teile unserer Gesellschaft keinen Respekt mehr vor staatlichen Institutionen haben. Eine soziale Pflichtzeit könnte ein Schritt sein, dies zu ändern.
Für eine Beschreibung der Silvesterereignisse in Berlin und andernorts benötigt man Superlative. Die Bilder dieser Nacht und insbesondere einige der Angriffe, wie das Ausrauben eines Feuerwehrwagens, das Locken in Hinterhalte oder der gezielte Beschuss mit Feuerwerk, werden uns lange im Gedächtnis bleiben. Aus eigener Erfahrung: Den Angegriffenen bleiben solche Einsätze ein Leben lang im Gedächtnis. Dieser allemal.
Zur Wahrheit gehört, dass zwar das Ausmaß der exzessiven Gewalt schockieren muss. Vom Himmel gefallen ist sie jedoch nicht. Gewaltforscher beschreiben schon seit Jahren, dass verschiedene Teile unserer Gesellschaft staatlichen Institutionen mit großer Distanz gegenüberstehen und den Sinn für das Gemeinwohl verloren haben – sofern sie ihn je hatten. Die Blaulichtorganisationen (Polizei, Feuerwehr, Rettungsdienste…) repräsentieren diesen Staat, mit dem sie nicht viel am Hut haben wollen. Sie sind zu Feindbildern geworden.
Um es klar zu sagen: Die Blaulichtorganisationen betreiben bei diesen Ereignissen lediglich Symptombekämpfung. Das ist ihnen, insbesondere den Feuerwehr- und Rettungskräften, in solchen Nächten kaum mehr zuzumuten. Für das Bearbeiten der strukturellen, gesellschaftlichen Probleme und die Ursachenbekämpfung tragen nicht sie, sondern wir die Verantwortung: die Politik.
Wir müssen uns zumuten, die vielen verschiedenen Problemschichten anzugehen, ohne die eine gegen die andere auszuspielen.
Wenn der Bundespräsident im vergangenen Jahr bei einer Veranstaltung im Schloss Bellevue sagte: „Öffentliche Räume müssen wir verteidigen“, hatte er keine Silvesterkrawalle im Sinn. Dennoch traf er unbeabsichtigt einen wichtigen Punkt. Jemand, der sich außerhalb seines gewohnten sozialen Umfeldes für eine Weile den Sorgen und Nöten anderer Menschen gewidmet hat, wird kaum Rettungsdienste oder die Feuerwehr angreifen oder ausrauben. Es ist daher ein Teilaspekt einer ohnehin sinnvollen Debatte.
Nach langem Zögern und Abwägen des Für und Wider bin ich inzwischen ein Befürworter sozialer (Pflicht-)zeiten. Nicht wegen gewalttätiger Jugendlicher, die mit dem Staat auf Kriegsfuß stehen – aber durchaus auch deswegen.
Jedenfalls habe ich wenig Verständnis für eine reflexhafte Ablehnung der Vorschläge des Bundespräsidenten. Die Reflexe machen sich an der „Pflicht“ fest. Pflicht wird als Freiheitseinschränkung begriffen. Mich überzeugen die Gegenargumente nicht.
Vielmehr hat der Bundespräsident Recht, wenn er beschreibt, dass es in unserer Gesellschaft zwar ein weit verbreitetes, vorbildhaftes und bewundernswertes Engagement vieler Menschen gibt. Allerdings gibt es tatsächlich auch Gruppen, die unter sich bleiben und von denen der Bundespräsident sagt, sie hätten „gläserne Wände“ um sich herum errichtet und blieben in ihrem sozialen Umfeld. Ich finde, wir sollten Debatten über soziale Zeiten nicht aufs Abstellgleis verbannen, indem wir gleich mit den großen Keulen der Verfassungswidrigkeit (das Grundgesetz könnte man ändern) oder der Europäischen Menschenrechtskonvention (es gibt auch gute Argumente für eine Vereinbarkeit) oder der untragbaren Freiheitseinschränkung schwingen. Vielmehr sollten wir gemeinsam nach Wegen und Modellen suchen, die mehrheitsfähig und gewinnbringend für alle sind. Schließlich muss die Zeit kein ganzes Jahr sein.
Aus der Pflicht könnten neue Anreizsysteme werden. Eine Begrenzung auf junge Menschen hat der Bundespräsident ohnehin nicht vorgeschlagen. Es gäbe viele Wege. Vor allem hat er Recht: „Die Debatte darf nicht im Nichts enden.“ Und sie hat einen nicht unbedeutenden Nebenaspekt: Zeiten des sozialen Engagements stärken den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Das wiederum wirkt dem Entstehen von Kriminalität entgegen

12 Neujahrsverabredungen mit einem selbst, zugeschickt aus Bethlehem

01 Jan
1. Januar 2023

288/Januar 2023
Guten Tag, die nachfolgenden Empfehlungen habe ich dem Rundbrief des Palästinensers Mazin Qumsiyeh
entnommen, mit dem ich in Manchem voll übereinstimme (Biodiversität, Nachhaltigkeit z.B.) und in Manchem ausdrücklich nicht. Sein Abstand zu Israel und den Israelis scheint mir unüberbrückbar zu sein.
Aber wollten wir uns nicht vornehmen, im neuen Jahr stärker auf Positionen zu achten, die, zumindestens auf den ersten, vielleicht auch auf den zweiten Blick nicht die unserigen sind?
Mit allen guten Wünschen für 2023
Henning v. Vieregge

Zum Autor
Mazin Butros Qumsiyeh (born 1957 in Beit Sahour)[1] is a Palestinian scientist and author,[2] founder and director of the Palestine Museum of Natural History (PMNH) and the Palestine Institute for Biodiversity and Sustainability (PIBS) at Bethlehem University where he teaches.[3][4] After serving on the faculties of the University of Tennessee (1989–1993), Duke University (1993–1999), and Yale University (1999–2005), he now researches and teaches at Bethlehem and Birzeit Universities since 2008. Here Qumsiyeh joined with other professors to introduce the first Biotechnology Masters program in the region. (Wikipedia ausschnittsweise)

P.S. 2023 erleichtert einem Jubeloptimismus nicht. Dafür steht der Schnappschuss vom Schlussbild einer Aufführung Silvester im Darmstädter Theater „Frau Luna“

12 Empfehlungen für ein besseres Leben
1) Children of all ages need to be in nature. Play with dirt and smell
nature. It improves immunity (latest epidemiological studies of those who
died with COVID19). Plant things, harvest, and enjoy (ornamental plants,
herbal plants, fruits, vegetables. You can even do it on walls, ceilings,
balconies and window-sills).
2) Eat healthy seasonal food always. Not processed food.
3) Open your mind: shed the chains imposed on your brain from your
background (education, religion, culture, society, conformity,
nationalism), The world changes – do not try to be fossilized.
4) Corollary: Read a lot and challenge yourself to read more every year
than the year before. Knowledge is power. You can also teach yourself or
via the internet speed reading.
5) Talk less and listen more (ask questions, art of attentive talking). No
matter your age, listen to young people, listen to old people, listen to
all people of all backgrounds.
6) Find your passion and follow it, be it music, poetry, agriculture,
painting, biology, computers or whatever. Never study something or do a job
because you think there is money in it. Follow your passion and money will
follow (or at least follow your passion while doing a job that you can eat
from temporarily). You also really do not need a lot of money to live a
decent healthy life.
7) Corollary: be passionate about a cause bigger than yourself: political,
human rights, helPing disenfranchised people etc. Getting involved in
something bigger than yourself makes you live longer and healthier
(physical and emotional) and life.
8) Time is your most valuable asset. Never waste it.
9) Walk a lot (important for all ages). Minimum one kilometer every day.
Run if your health allows it. Preferably in natural areas.
10) Challenge your mind and your body to do new things.
11) Make friends with people who care about society and about nature. Hang
around them and have fun while doing productive work (service. See #6).
12) Be kind to all (all animals including humans and plants) and never give
up (especially on the potentiality of the future) no matter the challenges.
Keep the hope alive.

© Copyright - Henning von Vieregge