Was 2023 zu tun ist: Deutschland braucht das soziale Pflichtjahr! Ein Gastbeitrag und nun ein weiterer Befürworter

05 Jan
5. Januar 2023

289/2023
Guten Tag,
die Silvesternacht war nicht für jeden vergnüglich. Polizisten, Feuerwehrleute und Sanitäter wurden teilweise, besonders in Berlin, heftig attackiert. Jetzt passiert, was immer passiert. Die einen fordern strengere Strafen, die anderen weisen darauf hin, dass die Bestrafungsmöglichkeiten ausreichen, sie müssten nur angewendet werden. Es handle sich um kein Integrationsproblem, es handle sich um ein Integrationsproblem von Jugendlichen, die sich nicht integrieren wollen. Man kann dies verallgemeinern, man kann dies nicht verallgemeinern. Zaghaft taucht eine Forderung auf, die seit Jahren vorgetragen wird, ohne dass sie auf der politischen Agenda bisher eine Chance hätte: die nach einem sozialen Pflichtjahr. Hätten rabiate Jugendliche anders gehandelt, wenn sie Erfahrungen bei der Feuerwehr oder mit Sanitätern gesammelt hätten? Wären sie gegen andere Jugendliche von sich aus eingeschritten mit einer solchen Erfahrung? Niemand weiß es. Aber Stephan Grünewald, Gründer des renomierten Rheingold- Meinungsinstituts, hatte schon kurz vor Weihnachten, also unabhängig von den Vorfällen der Silvesternacht, nochmals den Versuch gemacht, das Thema „Soziales Pflichtjahr“ zu pushen. Hat es nun endlich eine Umsetzungschance?
Mit herzlichen Grüßen
Henning v. Vieregge

P.S.Der nachfolgende Text erschien am 25.12.2022 als Meinungsbeitrag einer Serie im The Pioneer unter der Überschrift „Was 2023 zu tun ist: Deutschland braucht das soziale Pflichtjahr!

Nachtrag 6.1.2023 Meinungsbeitrag in:The Pioneer
Der SPD-Bundestagsabgeordnete Sebastian Fiedler sich ebenfalls für ein soziales Pflichtjahr ausgesprochen. Er sitzt seit 2021 im Bundestag. Zuvor war er drei Jahre lang Vorsitzender des Bundes deutscher Kriminalbeamter.Er meint:Der Anstoß von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier für die Einführung sozialer Pflichtzeiten ist keinesfalls die Lösung aller dieser Probleme. Es gibt aber Anknüpfungspunkte. Bitte scrollen. Der Beitrag ist hinter Gründewalds Beitrag.

Meinungsbeitrag Stephan Grünewald

Ein soziales Pflichtjahr stärkt den gesellschaftlichen Zusammenhalt und das Wir-Gefühl, aus psychologischer Sicht eine der wichtigsten Aufgaben für die nahe Zukunft.
Denn in vielen Studien stellen wir fest, dass die Angst vor einer zunehmenden gesellschaftlichen Entzweiung und dem damit verbundenen sozialen Klimawandel wächst. Vor allem in den Pandemiejahren hat das Wir-Gefühl großen Schaden erlitten. Viele Menschen haben sich in ihr privates Schneckenhaus zurückgezogen und die Kontaktpunkte zu der Welt da draußen reduziert.
Ein soziales Pflichtjahr kann der daraus resultierenden Selbstbezüglichkeit und Weltfremdheit wirkungsvoll begegnen, denn es eröffnet jungen Menschen einen anderen Blickwinkel auf das Leben in Deutschland. Sie verlassen ihren kleinen Kosmos und kommen mit wildfremden Leuten aus den verschiedensten sozialen Milieus zusammen.
Den Jugendlichen wird so bewusst, dass es Menschen gibt, die ganz andere Nöte haben oder aus einem anderen kulturellen Kontext kommen. Diese Horizonterweiterung ist vor allem wichtig, weil der Sozialisationsraum Schule schon nach vier Jahren einer Separationslogik folgt und zu einer Verengung des sozialen Gefüges führt: Am Gymnasium oder auf der Realschule sind die Schüler überwiegend mit ihresgleichen zusammen.
Auch die sozialen Medien forcieren, dass der Blick nur noch auf die eigene Blase gerichtet und mehr und mehr das Verständnis für Andersdenkende und Anderslebende verloren geht.
Eine demokratische Gesellschaft braucht daher ein erweitertes Inzest-Tabu – also die Aufhebung einer selbstbezüglichen, durch die sozialen Medien noch geförderten sozialen und mentalen Inzucht. Ein soziales Pflichtjahr greift damit das Konzept der Lehr- und Wanderjahre auf.
Der Ausbruch aus der wohlvertrauten Enge von Familie, Schule und Umgebung ermöglicht es erst, andere Wirklichkeiten und Gepflogenheiten kennenzulernen und zu verstehen. Der damit verbundene Perspektivwechsel und die Auseinandersetzung mit fremden Lebenswelten bedeutet nicht nur eine Erziehung zur Toleranz, sondern auch einen Schritt zur persönlichen Reife.
Das Pflichtjahr wird auch zu einer biographischen Entlastung junger Leute führen.
Denn der Druck, der auf ihnen lastet, ist groß – gerade weil sie in einer Welt leben, die ihnen viel ermöglicht: Sie haben tolerante Eltern und – jenseits der prekären Verhältnisse – meist eine gute materielle Grundausstattung.
Dadurch wächst der Anspruch an sich selbst etwas ganz Besonderes zu werden. Mittelmaß oder Durchschnittlichkeit wird beinahe zwanghaft aus der Lebensplanung ausgeschlossen.Zudem müssen Jugendliche durch die verkürzte Schulzeit jetzt schon mit 17 entscheiden, wohin es im Leben gehen soll. Das schürt nicht nur einen immensen Konkurrenzdruck, sondern führt auch zu einer strukturellen Überforderung angesichts eines dauernden Gefühls latenten Ungenügens.Das Pflichtjahr schafft so durch einen begrenzenden und bestenfalls erdenden Aufgabenbereich ein produktives Moratorium, in dem der eigene Berufswunsch reifen kann.
Als Argument gegen das Pflichtjahr wird oft angeführt, dass der Vorschlag zur Unzeit kommt, da den Jugendlichen durch die Auflagen und Beschränkungen der Corona-Zeit doch schon genug zugemutet worden sein.
Eine für den Stern durchgeführte Jugend-Studie öffnet in seinen alarmierenden Ergebnissen jedoch den Blick auf die sozialen Spätfolgen der Corona-Zeit.
Fast die Hälfte der befragten Jugendlichen beschreiben, dass sie nach den Coronajahren Angst haben, mit anderen in Kontakt zu treten.
© ThePioneer
Es besteht also ein gravierender sozialer Nachschulungsbedarf. Bereits in der Schule sollte daher im nächsten Jahr die Etablierung eines neuen Miteinanders Priorität haben. Mehr Klassenfahrten, mehr Schulfeste und der gemeinsame Austausch über die seelischen Auswirkungen der multiplen Krisen: Was macht der Krieg mit euch? Welche Spuren hat Corona hinterlassen?
Ein soziales Pflichtjahr mit einer angemessenen Bezahlung unmittelbar nach dem Ende der Schulzeit bietet darüber hinaus den zeitlichen und organisatorischen Rahmen wieder – jenseits von Konkurrenzdruck und Turboeffizienz – kontaktfähiger und kontaktfreudiger zu werden.

Meinungsbeitrag Sebastian Fiedler

Das Ausmaß der Gewalt in der Silvesternacht ist schockierend, kommt aber nicht vom Himmel gefallen. Schon seit Jahren zeigt sich, dass Teile unserer Gesellschaft keinen Respekt mehr vor staatlichen Institutionen haben. Eine soziale Pflichtzeit könnte ein Schritt sein, dies zu ändern.
Für eine Beschreibung der Silvesterereignisse in Berlin und andernorts benötigt man Superlative. Die Bilder dieser Nacht und insbesondere einige der Angriffe, wie das Ausrauben eines Feuerwehrwagens, das Locken in Hinterhalte oder der gezielte Beschuss mit Feuerwerk, werden uns lange im Gedächtnis bleiben. Aus eigener Erfahrung: Den Angegriffenen bleiben solche Einsätze ein Leben lang im Gedächtnis. Dieser allemal.
Zur Wahrheit gehört, dass zwar das Ausmaß der exzessiven Gewalt schockieren muss. Vom Himmel gefallen ist sie jedoch nicht. Gewaltforscher beschreiben schon seit Jahren, dass verschiedene Teile unserer Gesellschaft staatlichen Institutionen mit großer Distanz gegenüberstehen und den Sinn für das Gemeinwohl verloren haben – sofern sie ihn je hatten. Die Blaulichtorganisationen (Polizei, Feuerwehr, Rettungsdienste…) repräsentieren diesen Staat, mit dem sie nicht viel am Hut haben wollen. Sie sind zu Feindbildern geworden.
Um es klar zu sagen: Die Blaulichtorganisationen betreiben bei diesen Ereignissen lediglich Symptombekämpfung. Das ist ihnen, insbesondere den Feuerwehr- und Rettungskräften, in solchen Nächten kaum mehr zuzumuten. Für das Bearbeiten der strukturellen, gesellschaftlichen Probleme und die Ursachenbekämpfung tragen nicht sie, sondern wir die Verantwortung: die Politik.
Wir müssen uns zumuten, die vielen verschiedenen Problemschichten anzugehen, ohne die eine gegen die andere auszuspielen.
Wenn der Bundespräsident im vergangenen Jahr bei einer Veranstaltung im Schloss Bellevue sagte: „Öffentliche Räume müssen wir verteidigen“, hatte er keine Silvesterkrawalle im Sinn. Dennoch traf er unbeabsichtigt einen wichtigen Punkt. Jemand, der sich außerhalb seines gewohnten sozialen Umfeldes für eine Weile den Sorgen und Nöten anderer Menschen gewidmet hat, wird kaum Rettungsdienste oder die Feuerwehr angreifen oder ausrauben. Es ist daher ein Teilaspekt einer ohnehin sinnvollen Debatte.
Nach langem Zögern und Abwägen des Für und Wider bin ich inzwischen ein Befürworter sozialer (Pflicht-)zeiten. Nicht wegen gewalttätiger Jugendlicher, die mit dem Staat auf Kriegsfuß stehen – aber durchaus auch deswegen.
Jedenfalls habe ich wenig Verständnis für eine reflexhafte Ablehnung der Vorschläge des Bundespräsidenten. Die Reflexe machen sich an der „Pflicht“ fest. Pflicht wird als Freiheitseinschränkung begriffen. Mich überzeugen die Gegenargumente nicht.
Vielmehr hat der Bundespräsident Recht, wenn er beschreibt, dass es in unserer Gesellschaft zwar ein weit verbreitetes, vorbildhaftes und bewundernswertes Engagement vieler Menschen gibt. Allerdings gibt es tatsächlich auch Gruppen, die unter sich bleiben und von denen der Bundespräsident sagt, sie hätten „gläserne Wände“ um sich herum errichtet und blieben in ihrem sozialen Umfeld. Ich finde, wir sollten Debatten über soziale Zeiten nicht aufs Abstellgleis verbannen, indem wir gleich mit den großen Keulen der Verfassungswidrigkeit (das Grundgesetz könnte man ändern) oder der Europäischen Menschenrechtskonvention (es gibt auch gute Argumente für eine Vereinbarkeit) oder der untragbaren Freiheitseinschränkung schwingen. Vielmehr sollten wir gemeinsam nach Wegen und Modellen suchen, die mehrheitsfähig und gewinnbringend für alle sind. Schließlich muss die Zeit kein ganzes Jahr sein.
Aus der Pflicht könnten neue Anreizsysteme werden. Eine Begrenzung auf junge Menschen hat der Bundespräsident ohnehin nicht vorgeschlagen. Es gäbe viele Wege. Vor allem hat er Recht: „Die Debatte darf nicht im Nichts enden.“ Und sie hat einen nicht unbedeutenden Nebenaspekt: Zeiten des sozialen Engagements stärken den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Das wiederum wirkt dem Entstehen von Kriminalität entgegen

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