TAR,Nullpunkt: Kino- und Lesetipp
293/2023
Guten Tag,
der Film TAR ist noch in den Kinos. Geht hin, bevor er verschwindet. Der Film war kein großer ökonomischer Erfolg. Dafür ist er zu sperrig. Die Geschichte der Dirigentin TAR (Cate Blanchett), die Chefin der Berliner Philharmoniker wird, ist so vielfältig und widersprüchlich, dass ich beim zweiten Kinobesuch genauso viel Neues gesehen und gehört habe wie beim ersten. Das ist Kunst. Keine Kunst ist präsent ohne Nachhall und Geheimnis. In einer der Schlüsselszenen unterrichtet TAR eine angehende Dirigentenklasse und nimmt sich dort einen jungen Mann vor, der versucht, sich ihrem Charisma zu entziehen. Streitpunkt wird Johann Sebastian Bach. Der junge Mann findet, dass er wenig Neigung verspürt, die Musik eines so alten weißen Mannes zu dirigieren. Sie macht ihm in heftiger Weise klar, dass er als Dirigent nicht an der Biografie von Bach gemessen wird, sondern daran, was er aus dem Werk macht. Der junge Mann verlässt wortlos den Raum. Zu viel Aggression für eine „Generation beleidigt“ (Caroline Fourest). Es passiert, was neuerdings verlässlich passiert: die Szene, zugeschnitten und zugespitzt, erscheint als Video in den sozialen Netzen. Das Echo kann man sich denken. Kann sich auch denken, dass genau Szenen wie diese das Oscargremium daran gehindert haben, die nominierte Cate Blanchett auszuzeichnen. Was hätte das wieder für aufgeregte Debatten gegeben.
Ein Freund hat mir das knapp 200 Seiten Buch von Artem Tschech, Nullpunkt, empfohlen. Ich empfehle es weiter. Der Autor ist ein Intellektueller aus Kiew, der 2015 für ein Jahr an der Donbass Front gedient hat. In knappem präzisem Stil beschreibt Tschech, wie dieses Jahr ihn und seine Kollegen aus dem Schützengraben verändert hat: „Wir sehen den Krieg, wie er ist. Und wir sehen uns selbst so, wie wir sind. Schnapsdurchtränkt, vom Winde verweht, verbrannt, verroht, meist apathisch mit entzündeten Augen, entzündetem Zahnfleisch, gut geräuchert, mit langsamen Bewegungen, scharfem Blick und extremen Ansichten. Durcheinander und durchgedreht.“ Man versteht, warum das Minsker Abkommen von 2015 für die Ukraine so wichtig war. Es hat ihr Zeit gegeben, aus einer verrotteten, verlassenen Truppe eine Armee mit Ausbildung, Willen und Vision zu machen.
Mit besten Grüßen
Henning v. Vieregge