Helfensbedürftig? Ehrenamt, bürgerschaftliches Engagement, Freiwilligenarbeit-was den nun?

19 Nov
19. November 2023

305/November 2023
Guten Tag,

Was ist Ihnen lieber: Ehrenamt, bürgerschaftliches Engagement oder Freiwilligendienst? Gemeint ist mit allen drei Begriffen das gleiche. Fragt man allerdings herum, kommen bei „Ehrenamt“ die wenigsten Meldungen. Das ist auch verständlich. Denn dieser Begriff, eigentlich der traditionelle, verspricht am wenigsten Freude daran, Dritten beizustehen. Was antwortet man denn als aktiver Bürger auf die Frage eines lieben Nachbarn, warum man eigentlich nur so blöde sein kann und seine Zeit auf diese Weise einzusetzen? Der kürzlich verstorbene Klaus Dörner, dem die Diskussion um bürgerschaftliches Engagement (diesen Begriff schlug die Politik in einer Enquetekommission vor) viele Impulse verdankt, stellte provokativ diese Frage. Seine Antwort: Engagement dient der Gesundheit und zwar der eigenen. Klaus Dörner verdanken wir auch eine Wortschöpfung, die es vorher nicht gab:“Helfensbedürftig“. So ein Buchtitel von ihm. Die Unterzeile lautet: Heimfrei ins Dienstleistungsjahrhundert. Damit hat der Autor angezeigt, wohin seiner Meinung nach die Entwicklung gehen soll: radikaler Ausbau der Unterstützung hilfsbedürftiger Menschen in ihrer angestammten Wohnung, durchgeführt von einem neuartigen Mix aus Haupt- und Ehrenamt. Menschen, sagt Dörner, sind von Natur aus nicht nur hilfs-, sondern auch helfensbedürftig. Wer diesem Ruf folgt, der
Mit besten Grüßen
Henning v. Vieregge

fühlt sich wohler im Leben. Natürlich gibt es auch hier eine Grenze. Man spricht dann von Helfersyndrom. Allerdings sind diejenigen, die darüber klagen, meiner Erfahrung nach nicht diejenigen, die geschützt werden müssen. Aber das ist eine andere Geschichte. Im Zusammenhang mit der freiwilligen Arbeit, die ja qua Definition nicht die eigene Familie betrifft, sondern andere Mitmenschen, ist zweierlei bemerkenswert
Erstens hat die Freiwilligenarbeit entgegen den Prognosen vieler Pessimisten in den vergangenen Jahren nicht abgenommen, sondern nach Zahl sogar zugenommen. Der alle fünf Jahre erhobene Freiwilligen-Survey des Bundesfamilienministeriums gibt dazu verlässliche Auskunft. Mehr als ein Drittel der Bürger ist demnach bürgerschaftlich engagiert. Zweitens ist der Arbeitsmarkt, wenn man diese Begriffe im Zusammenhang mit Freiwilligenarbeit benutzen möchte, gespalten. Daraus entsteht ein Widerspruch, der nach Aufklärung verlangt. Wenn aus Sportvereinen, Vereinen insgesamt, aus Freiwilligen Feuerwehren und anderen Institutionen der sogenannten Zivilgesellschaft über mangelndes Engagement geklagt wird, so lässt sich dieser scheinbare Widerspruch zwischen der großen Zahl Engagierter und der Klage über mangelndes Engagement aufklären. Menschen engagieren sich aktuell kurz und heftig und am liebsten unverbindlich. Das gilt nicht nur für politisch engagiertes Protestverhalten. Sie sind aktivierbar, aber es ist nicht einfach, sie dafür zu gewinnen, dass sie sich über einen längeren Zeitraum verbindlich festlegen, vor allem für Aufgaben, die nicht nur Freude bereiten. Und dies sind verantwortliche Führungsaufgaben, zum Beispiel Wahlpositionen in Vereinen. Fazit: Wir wissen aus der Forschung, dass der Hauptantreiber veränderten menschlichen Verhaltens der Nachbar oder die Nachbarin ist. Also nicht Appelle oder ferne Vorbilder (Mutter Teresa), sondern die Botschaft: Dein Nachbar ist schon dabei. Und die hat sich in den letzten Jahren etwas spürbar verändert. Wenn früher derjenige, der sich gemeinwohlbezogen engagierte, sich dafür eher rechtfertigen musste, als dass er dafür bewundert würde, so ist dies heute umgekehrt. Allerdings, und diese Relativierung muss man machen, ist die Bereitschaft zum Engagement in der Gesellschaft unterschiedlich verteilt. Bildung, Einkommen, Gesundheit, sozialer Status entscheiden, ob die Bereitschaft ausgeprägt oder niedrig ist. Alle Versuche, hier mehr Ausgeglichenheit herzustellen, sind bisher weitgehend erfolglos geblieben. Die Kluft zwischen zwei Drittel und einem Drittel der Gesellschaft ist auch an dieser Stelle betrüblich breit. Projekte, die hier ansetzen, insbesondere in Kindergärten und Grundschulen, sind deswegen besonders wertvoll.
Dr. Henning von Vieregge, Lehrbeauftragter am Zentrum für wissenschaftliche Weiterbildung der Universität Mainz, hat einen Longseller zum Thema geschrieben: „Neustart mit 60, Anstiftung zum dynamischen Ruhestand.“
Zuerst erschienen im Bretzenheimer KURIER – Ausgabe 363 – Oktober 2023

Schlagworte:, , , , , ,
© Copyright - Henning von Vieregge