Lebensmodelle ab 65 – Anregungen aus Gesprächen

27 Jul
27. Juli 2020

238/Juli 2020

Guten Tag, ich habe ein gutes Buch gelesen und möchte das gern vorstellen.
Mit herzlichen Grüßen
Henning von Vieregge

Flyer Buch 65+

Neulich las ich eine Todesanzeige, die sinngemäß so ging: „Heute wäre die XY 100 geworden. Ihre Verwandtschaft hat sie vor zwei Jahren in ein Seniorenheim gebracht, dort ist sie vor einem Jahr gestorben.“ Es war so eine verkappte Todesanzeige, in Wirklichkeit ein Protest gegen die Behandlung einer älteren Dame durch ihre Verwandtschaft. Der Vorwurf: 0hne Verbringung in ein Seniorenheim wäre sie 100 geworden.
Auch diese etwas skurrile Geschichte zeigt, dass wir uns daran gewöhnt haben, nicht mehr mit 65 zu sterben. Die Autoren Ernst Bechinie und Judith Barbara Shoukier erinnern in ihrem Buch daran, dass noch im Jahr 1900 die durchschnittliche Lebenserwartung unter 50 Jahren lag. Und so war es über Jahrhunderte gewesen. Es war keineswegs respektlos, dem Philosophen Immanuel Kant, wie es ein Gratulationsredner tat, zum 50. Geburtstag mit „ehrwürdiger Greis“ zu titulieren. Die große Wende kam wesentlich durch medizinischen Fortschritt im Übergang ins 20.Jahrhundert, die Folgen setzten nach und nach ein.
Die Altersforschung hat sich inzwischen angewöhnt, von einer dritten Lebensphase zu sprechen, die sich zwischen Berufstätigkeit und Hochalterigkeit geschoben hat. Der Begriff „Ruhestand“ ist demnach in der bisherigen Form ein Auslaufmodell, er wandert entweder im Leben an den Rand oder verschwindet ganz. Aber was soll an die Stelle treten? Das traditionelle Altersbild ist wesentlich verlustgeprägt und trifft die Wirklichkeit somit nur noch begrenzt. Im Überschwang werden Muntermacher als Bücher, Tassen und T-Shirts geboten, in denen das eigentliche Lebensglück denjenigen, die in diese Phase eintreten, quasi automatisch bevorsteht. Die Werbung zeigt heitere, aktive jung-ältere Paare, die sich mit vollständigen Zahnreihen scheinbar ewig anlächeln: die neuen Kreuzfahrer sind da. Nicht nur in Pandemiezeiten gruselt einen vor so viel Oberfläche.
Was für eine Freude, in einer solchen Situation ein wirklich schön gemachtes Buch mit Geschichten von Menschen über 65 lesen zu können. Pasqualina Perrig-Ciello, schweizerische Altersforscherin, schreibt in ihrem Vorwort

zur Zielgruppe: „Diese zum Ruhestand Bestimmten gehören einer Generation an, die immer weniger ‚ruhig gestellt‘ werden will und lineare Lebens – und Berufsverlaufsvorstellungen sowie starre sozialpolitische Regelungen zunehmend infrage stellt. Angesichts der potentiellen Länge des Ruhestandes ist diese Neudefinition heute notwendiger denn je.“ Die Autoren haben Gespräche geführt. Ernst Bechinie, selber einer jener geradezu exemplarischen „neuen Alten“ und seine um eine Generation jüngerer Mitautorin Judith Barbara Shoukier, haben 23 Personen befragt, dabei einige Leitfragen verwendend und in klugerweise komprimierend. (Der Autor dieser Zeilen kann das bestätigen, weil er zu einem der Befragten gehörte.) Bei rund 300 Seiten Text bilden etwa 40 Seiten eine Fakten transportierende, im Übrigen behutsam reflektierende Einleitung. Das Schlusskapitel hat den gleichen Umfang.
Nimmt man alles zusammen, ist das Ergebnis so wenig überraschend wie die ausgebreiteten Lebensverläufe. Aber man kann dieses Ergebnis gar nicht genug verbreiten: Es gibt keinen Paradeweg in die dritte Lebensphase und auch diejenigen, die hinein gestolpert sind, haben sich nach einer Orientierungszeit berappelt und sind erfolgreich bemüht, die gewonnene Lebenszeit nicht sinnlos verstreichen zu lassen. Unter dem Strich entsteht so erheblich Nützliches für Nehmer und Geber; Eigen- Familien- und Gemeinwohl lassen sich gut verbinden. Was die Generali Altersstudie 2013 empirisch belegte und ein Kommentator( Gerhard Naegele) damals als „kleinen Generationenvertrag“ bezeichnete, findet sich hier in den Lebensläufen. Die Generation empfängt (zum Beispiel die Altersversorgung) und gibt auf vielfache Weise. Es ist ein Austausch in beide Richtungen. Häufig ist das Geben stärker als das Nehmen. Damit trägt diese Generation zum Zusammenhalt und zur Stabilität der Gesellschaft nicht unerheblich bei. Es ist gerade die Freiheit des Individuums, zu entscheiden an welcher Stelle es sich einbringt, das dazu führen kann, dass Lücken und Brüche im gesellschaftlichen System wenn auch nicht geheilt, so doch überbrückt werden. Anstrengungsfrei ist dies aber nicht, vor dem Gipfel liegt der Aufstieg. Eine ursprüngliche Führungskraft im Tourismus, Dominique Faesch, bringt diesen Gedanken auf den Satz: „Erfolg kommt für mich ganz stark von Ausdauer und Geduld“. Auch Vorwort-Autorin Pascalina Perrig-Chiello, inzwischen Präsidentin der Senioren Universität Bern, stellte sich der Befragung. Ihre Metapher „Der Herrgott schickt Wind und Wetter. Rudern muss ich selber“ findet sich in ähnlicher Form auch bei anderen, so bei einem Unternehmer, Roland Sauter: „Stürme kommen und gehen. Den Kurs müssen wir selber halten.“
Die Autoren haben den Lebensgeschichten zwölf Impulse für den Alltag angefügt, Wegbegleiter genannt. Das, was dort zu lesen ist, ist mehr als auf langweilige Weise richtig. Entscheidend sind der argumentative Bogen, eine einfühlsame Sprache, anregende Fragen an die Leser, die Leserin am Ende der jeweiligen Abschnitte. Und genau dies ist den Autoren in großartiger Weise gelungen. Ein rundum empfehlenswertes Buch.
Mit herzlichen Grüßen
Henning v. Vieregge

bestellung@bellingsbooks.com

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