Vision-warum und wie eine katholische Kirchengemeinde zu ihr kam
Blog 192/Dezember 2018
Guten Tag,
für das Hessische Pfarrblatt habe ich mir das Buch von Susanne Degen und Andreas Unfried herausgegebene Buch “ X XL – Pfarrei, Wie Menschen Kirche entwickeln“ genauer angeschaut. Die Pointe ist, es handelt sich um ein Buch von katholischen Haupt- und Ehrenamtlichen aus Steinbach und Oberursel bei Frankfurt. Ein Buch also, bei dem evangelische Christen von katholischen Christen lernen können. Und Nicht-Christen übrigens auch. Denn die Frage, wie man aufgeschlossen und intelligent einen Visionsprozess durchführt, interessiert nicht nur Kirchengemeinden. Jeder Sportverein, jede Schule, jedes Krankenhaus und jedes Altersheim, zusammengenommen jeder Verein, jede Institution fragen sich, wer sie sind und wie sie dies, nachdem sie es selber begriffen haben, anderen begreifbar machen. Auf der Suche nach Sympathie, Mitgliedern, Kunden, Klienten und Unterstützung. Der Text ist nachlesbar im hessischen Pfarrblatt Nummer sechs vom Dezember 2018, im Netz verfügbar.
Mit vorweihnachtlichen Grüßen
Henning v. Vieregge
XXL und nah am Menschen – wie soll das gehen?
Susanne Degen, Andreas Unfried (Hg.), XXL Pfarrei – Wie Menschen Kirche entwickeln, echter Verlag Würzburg 2018, 287 Seiten, 19,90 €
Zugegeben, bei diesem Buch bin ich voreingenommen. Und zwar positiv. Denn in dem von Susanne Degen und Andreas Unfried herausgegebenen Werk von knapp 300 Seiten wird der Visionsprozess in einer katholischen Doppelgemeinde, nämlich Steinbach – Oberursel bei Frankfurt, beschrieben, den ich nicht nur kennengelernt, sondern an dem ich mich auch partiell beteiligt hatte: als evangelischer Interviewer überzeugt von dessen Originalität. Ich hatte zuvor einige Visionsprozesse miterlebt und mitgestaltet und bin der Überzeugung, dass es für jede Institution, auch Kirchengemeinden, ausgesprochen empfehlenswert ist, sich einem solchen Prozess zuzumuten. Allerdings nur unter zwei Voraussetzungen: Das Ergebnis soll erstens Menschen helfen, sich zu orientieren, es soll anspruchsvolle aber erreichbare Ziele setzen. Das ist ein Kunststück, zugegeben. Denn sind die Ziele allzu leicht erreichbar, ist der Begriff Vision unangebracht. Dann sind zwar Erfolgserlebnisse erzielbar, aber sie hinterlassen keine nachhaltige Stärkung. Sind die Ziele jedoch praktisch nicht erreichbar, geht es denen, die sie anstreben, wie Hunden, denen die Wurst kurz vor dem Zuschnappen immer wieder weggezogen wird. Dann sagt man sich irgendwann, veralbern könne man sich auch selber und der erwünschte Aufbruch bleibt stecken.
Die zweite Voraussetzung einer überzeugenden Vision ist die Anlage der Visionsfindung als breiter Prozess und zwar von Anfang an. Man kann sich anschließend darüber streiten,
ob das Ergebnis oder der Weg dorthin das wertvollere war. Beides ist gleichermaßen von Bedeutung. Besonders in Unternehmen aber auch in Kirchengemeinden ist es oft anders. Da wird die Vision in kleinem Kreis der Führung, vielleicht erweitert um einen Moderator und eine Impulsgeberin, besprochen und nach Diskussion eingetütet. Anschließend wird das gemeine Volk zur Verkündung zusammengerufen und angemahnt, der Funke solle nun überspringen. Der springt nicht, die aufgeschriebene Vision vergilbt in den Akten und die Führung steht vor der berühmten Brecht-Empfehlung, sich eine andere Gefolgschaft zu suchen. Ob die Führung nämlich daraus lernt, es beim nächsten Mal anders zu machen, ist völlig offen. Möglicherweise werden auch die Kommunikationsverantwortlichen gefeuert, weil sie angeblich ihren Job schlecht gemacht haben. Auch scheint der Führung oft das Risiko zu groß, dass „unten“ Dinge gedacht und gefordert werden, die „oben“ nicht erwünscht sind. In Steinbach-Oberursel ist man dieses Risiko eingegangen. So wie die Visionssuche angelegt war, war sie eine überzeugende Antwort auf die Entwicklung innerhalb der katholischen Kirche, die noch stärker als die unsrige auf eine dreifache Herausforderung Antworten sucht: den demografischen Wandel, den ungebrochenen Trend zum Kirchenaustritt und die dramatisch verringerte Zahl an Pfarrern. Auch wenn Bistümer darauf zeitlich versetzt und unterschiedlich akzentuiert reagieren, so ist doch der Großtrend der gleiche: Pfarreien werden zusammengelegt. Kann der damit vorauszusehende Entfremdungsprozess zwischen Kirchenmitgliedern, insbesondere den bisher aktiv ehrenamtlichen, und der Führung abgemildert oder gar aufgefangen werden? Die beiden Herausgeber stehen stellvertretend für den Lösungsansatz, den die katholische Kirche einschlägt: Susanne Degen ist Pastoralreferentin, Andreas Unfried ist Pfarrer, beide sind die Köpfe einer Autorengemeinschaft von elf Autoren und Autorinnen, die haupt- oder ehrenamtlich in der neuen Großgemeinde tätig sind. Sie beschreiben, „Wie Menschen Kirche entwickeln“, so der etwas nüchterne Untertitel des Buches. Es ist in sieben Kapitel gegliedert: Suchwege zu einem neuen Pastoral, Visionsprozess – eine gemeinsam geteilte Vision mit möglichst vielen Menschen entwickeln, Gemeinsam in die Verantwortung gerufen: Synodalität und Partizipation, Wie die Kirche zu den Menschen kommt – Projekte und Initiativen, Einfach ist es nicht – von Herausforderungen, Widerständen und Ambivalenzen, Pfarrei ist nicht Gemeinde -und das ist auch gut so, Perspektiven lokaler Kirchengemeinden und schließlich das Schlusskapitel “ Mit Heiligem Geist getauft“. Der Anspruch des Buches ist also, das Thema XXL Pfarrei umfassend zu beschreiben, dessen Entwicklungschancen zu skizzieren und dabei zur Nachahmung zu empfehlen.
Eine große Anregung erfuhren die beiden Herausgeber durch eine Studienfahrt auf die Philippinen. Stichwort „Kleine christliche Gemeinschaften“ (die sogenannten BECs: basic ecclesial communities)): „Wir haben gelernt, dass die philippinischen Diözesen, wenn sie vom Pastoralinstitut Bukal ng Tipan begleitet werden, ihre Visionsprozess mit einer geistlichen Phase beginnen. Dass sie dann in einem sehr breiten Prozess Menschen befragen, was sie beschäftigt und was eine Kirche tun sollte, damit sie für das Leben der Menschen relevant ist.“ (Degen S. 45). Im Rahmen dieser Besprechung können nicht alle einzelnen Schritte hin zur Befragung und durch sie hindurch zur Vision geschildert werden, die im Buch knapp 130 Seiten einnehmen und überdies im Netz ergänzend gut dokumentiert sind. (Unter St Ursula Vision), zumal die Autoren darauf hinweisen, dass sie das philippinische Vorbild nicht eins zu eins kopieren konnten und folglich auch nicht zur eins zu eins Imitation raten. „ Für einen solchen Visionsprozess gibt es keine Blaupause. Auch kann man den Weg von Oberursel nicht einfach auf andere Pfarreien anwenden es geht immer darum, zu schauen, was vor Ort vorhanden ist und welche Kompetenzen und Stärken eingeladen werden können“, schreibt Sabine Soeder, (S.62)eine Unternehmerin Prozessbegleiterin ,die mit ihrem Fachgebiet Art auf Hosting und ihrer Bereitschaft, den Prozess auch visuell zu begleiten, die Visionssuche in dieser Pfarrei nachhaltig prägte. Sie war eine von zwei, wie sie das selber beschreibt, freien Ehrenamtlichen im Kernteam, dazu gab es zwei Ehrenamtliche aus offiziellen Ämtern und zwei Hauptamtliche. Die Zusammensetzung ist kein Zufall, sondern Ausdruck ernst genommener Beteiligungsausrichtung. Der andere freie Ehrenamtliche, Harald Schwalbe, Chemiker an der Universität Frankfurt, berichtet in seinem Beitrag „über Quellen für den Visionsprozess“, wie die Idee, den Visionsprozess offen und in einer Weite anzulegen,“ die über die innerkirchliche Perspektive hinaus ausstrahlte“ ,(S.124) Früchte trug. Er unterscheidet dabei drei Cluster von Antwortgebern auf die Interviews. Da sind diejenigen, die schon lange in der Gemeinde und in der Pfarrei aktiv sind und sich einbringen wollen, damit Kirche sich weiterentwickeln kann. „Sie haben diesen Visionsprozess als motivierend, neu und inspirierend empfunden“. Im Cluster zwei sind diejenigen, für die Kirchenentwicklung selbst nicht das zentrale Interesse bildet, wohl aber die Möglichkeit, sich über die Interview-Fragen mit ihren Erfahrungen mit Spiritualität und Glauben einzubringen. Das dritte Cluster bilden diejenigen, denen die Frage wichtig ist, wie ein Zusammenleben von Menschen überhaupt aussehen soll angesichts der gewaltigen gesellschaftlichen und globalen Fragestellungen. Hier notiert der Autor, dass auch die dritte Gruppe der katholischen Kirche vor Ort zugestanden habe, einen relevanten Beitrag zur Beantwortung der Frage, wie wir gemeinsam leben wollen, zu geben. 63 Interviewer haben 350 Interviews geführt: 13 Fragen und eine Jokerfrage, gestellt im persönlichen Gespräch, protokolliert, mit dem Interviewten abgestimmt und als Material zur Vision eingebracht. Die Fragen lauteten unter anderem: Seit wann leben Sie in Oberursel, Steinbach? Was gefällt Ihnen hier? Was beschäftigt Sie? Welche Sorgen und Probleme machen Ihnen am meisten zu schaffen? Welche Bedeutung hat Nachbarschaft für Sie? Wo ist Gott für Sie in Oberursel und Steinbach erfahrbar? Was verbinden Sie mit einer lebendigen Kirche? Was für fasziniert Sie an Jesus? Wenn Jesus heute in Oberursel und Steinbach lebte, worum würde er sich besonders kümmern? Was gibt Ihrem Leben Sinn und Orientierung? Die Joker Frage lautete: „Gibt es noch eine Frage, die zu stellen wäre, wenn Sie auf sich persönlich oder auf ihre Familie oder auf die Kirche oder auf die Gesellschaft schauen“. Die Fragen waren einzeln auf Karten mit festem Karton in ansprechender lesbarer Handschrift geschrieben und der besondere Clou war, dass der oder die Befragte frei war, aus den ausgebreiteten Fragekärtchen diejenigen heraus zu fischen, die in selbst gewählter Reihenfolge beantwortet werden sollten. Für ein Heim mit behinderten Menschen wurden die Fragen angepasst. Die Kerngruppe des Visionsprozesses, verstärkt um weitere Freiwillige, hat dann aus den Interviews die Schlüsselaussagen auf Metaplan-Karten geschrieben und der Fußboden einer Turnhalle war anschließend übersät mit Karten aus den Interviews. Im Rahmen eines Visionstages wurden erste Ergebnisse vorgestellt und mit 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmern in Gruppen diskutiert. Dann begann ein weiterer Verdichtungsprozess. Es musste verhindert werden, dass am Schluss die Antworten der Interviewten das Ergebnis bestimmten und auch die Kerngruppe nicht aufschrieb, was sie sich schon immer gedacht hatte. Der Kernsatz der gefundenen Vision lautet: „offen miteinander glauben leben.“ Wiederum in einer auch visuell überzeugenden Darstellung gibt es verabschiedete Texte zu den Verben glauben, ausstrahlen, öffnen, wertschätzen, einladen, beteiligen, verändern und handeln. Anhand von Projekten und Initiativen wird geschildert, welche ersten praktischen Konsequenzen diese Vision auslöste, inspirierte und orientierte. Ein Beispiel: das Projekt“ Straßenkreuzer“ unter der Frage: „Was hat denn bitte Kaffeeduft mit Kirche zu tun?“ (S. 164-172) In der Beschreibung zum Projekt „Gemeinsam aktiv im Sozialraum“, zu der eine AG Begegnungsort im Zusammenwirken mit dem Caritasverband gehört, heißt es abschließend: „Möglich ist das alles aufgrund vielfältiger Kooperationen mit Akteuren der Politik und der Zivilgesellschaft“. (Sandra Anker S.199) Auch diese Offenheit ist ein Impuls aus der Befragung.
Es ist nicht übertrieben, von einem Aufbruch zu sprechen, der diese XXL – Pfarrei bewegt. Aber was war der Treiber des Aufbruchs? Die Antwort der Verfasser: „Seit 2012 gehen wir in der katholischen Pfarrei St. Ursula in Oberursel und Steinbach einen spannenden Weg der lokalen Kirchenentwicklung. Aus ursprünglich acht selbständigen Pfarrgemeinden, die sich zunächst in den 1990 er Jahren zu zwei „Pastoralen Räumen“ zusammengeschlossen worden waren, ist in einem intensiven, partizipativen Prozess eine jener berühmt – berüchtigten XXL –Pfarreien geworden. (Ausführlich in XXL – Pfarrei – Monster oder Werk des Heiligen Geistes? Würzburg 2012).“ (Degen/Unfried S.8). Die Rede ist von einer Pfarrei neuen Typs, (acht Gemeinden 14.500 Katholiken) die eine neue Identität brauche. Es ist die Reaktion von unten auf eine Aktion von oben: die Zusammenlegung bisher selbstständiger Pfarrgemeinden.“ Vielerorts werden der Not gehorchend lediglich größere Verwaltungseinheiten geschaffen, ohne auf die pastoralen Folgen mit ihren Chancen und Gefahren zu reflektieren, um gar nicht zu reden von einer visionären Zielvorstellung für die Pastoral im 21. Jahrhundert.“ (Unfried S. 248). In genau dieser visionären Zielvorstellung, bezogen auf eine sogenannte XXL Pfarrei ist der Ehrgeiz der Verantwortlichen in der Oberursel – Steinbach ausgerichtet. Auf dem Weg dahin lernten sie: Es geht nur im gleichberechtigten Zusammenspiel von Haupt- und Ehrenamtlichen („Es geht um wirkliche und ehrliche Beteiligung“, Matthias Wolf S. 216), das von beiden erlernt werden muss, und um eine Einbeziehung von weit mehr Menschen als bisher und um neue Arbeitsteilung zwischen den bisherigen Kirchgemeinden. Nur dann kann das gelingen, was per weitverbreiteter Vorstellung eigentlich nicht gelingen kann: Neue Größe und neue Nähe. „Beides kann ja gar nicht gehen. Diese Aussage ist mir immer wieder begegnet. Mit der Pfarrei neuen Typs gedanklich auch X XL – Pfarrei genannt – verbinden viele Menschen eine Zentralisierung und damit auch eine Anonymität. Der persönliche Bezug, der gerade in der diakonischen Seelsorge so wichtig ist, scheint zu schwinden.“(Sandra Anker, S.193)
Für die evangelischen Leserinnen und Leser ist das Buch mit dem Bericht von einer katholischen Basiserfahrung dreifach empfehlenswert: die Formulierung einer Vision ist ein Thema, das in vielen Institutionen auf der Agenda steht. Aber wie beginnen, wen befragen, wie auswerten und wie nutzen? Die Anregungen sind mannigfaltig und einladend. Die Überzeugung der Autoren, dass es an der Zeit sei, eine „Kirche der Beteiligung“ ernsthaft zu starten, wird auch in vielen evangelischen Kirchengemeinden geteilt. Der dritte Grund, sich mit dem Buch intensiv zu beschäftigen, ist der heikelste. Wie kann man aus der Not (angeblich oder tatsächlich) notwendiger Zusammenschlüsse von Kirchgemeinden eine Tugend machen? Schon der Begriff der X XL – Pfarrei ist klug gewählt. Der Begriff ist nämlich nicht von vornherein negativ besetzt. Er verheißt etwas Neues. Auf evangelischer Seite hat, gegründet auf Anregung des Huber -Papiers, das von Hans-Hermann Pompe geleitete Zentrum für Mission in der Region mit seinen Veröffentlichungen versucht, für Zusammenschlüsse in der Region zu werben. Aber eine Bewegung von unten und der Freiwilligkeit ist daraus nicht entstanden. Die Befürchtungen sind größer als die Hoffnung auf neue Chancen kirchlich-religiöser Wirksamkeit. Es ist ein Verdienst der Autoren, an einem lokalen Beispiel Erfahrungen zu schildern, die vielleicht doch an der einen oder anderen Stelle Lust an eigener Erprobung stärken. Aus dem Fazit des verantwortlichen Pfarrers seien drei Aspekte, die durchaus beachtenswert sind, zitiert: „Im Ergebnis schauen wir nun auf einige Jahre Erfahrung in der neuen Struktur zurück und können sagen, dass durch die Pfarreiwerdung das gemeindliche Leben vor Ort jedenfalls nicht behindert worden ist… Durch die Einrichtung eines zentralen Pfarrbüros mit erweiterten Öffnungszeiten sind Erreichbarkeit und Qualität der Dienstleistungen der Verwaltung erheblich verbessert… Tatsächlich sind aber gerade Menschen, die bisher in der Gemeinde keinen Ort für sich und ihren Glauben gefunden hatten, froh, in der Pfarrei eine kirchliche Sozialgestalt vorzufinden, die ihnen eine Beheimatung in Kirche ermöglicht.“(Unfried S. 245,247). Man wünscht sich, dass Bücher dieser Art, nämlich als Mix aus Bericht und Reflexion im Team von Ehren- und Hauptamtlichen, öfter geschrieben und publiziert werden. Es wäre fast leichtfertig, das Buch als Verantwortlicher innerhalb der evangelischen Kirche –in welcher Verantwortung auch immer- nicht zu lesen.