Hat der Kirchentag das Thema Kirche und Zivilgesellschaft nicht vernachlässigt? Eine Replik von Mario Zeißig und eine Antwort auf die Replik

17 Jun
17. Juni 2015

Brief 98/Juni 2015

Guten Tag

heute erreichte mich eine Stellungnahme zu meinen kritischen Bemerkungen am Kirchentag. Die Kritik an der Kritik stammt  von Mario Zeißig, der zum Team der Programmverantwortlichen  des Kirchentags gehört. Der Beitrag ist es wert, als Gastbeitrag hier eingestellt zu werden. Meine Antwort an ihn hänge ich dran.

Lieber Herr von Vieregge,

Loring Sittler war so freundlich, mich auf Ihren Blog-Beitrag zum Kirchentag (Brief 96)  hinzuweisen, da mir als einem der Programmverantwortlichen des DEKT an konstruktiven Feedback natürlich sehr gelegen ist.

Ich finde es sehr spannend, die Graswurzelbewegung Kirchentag mit der Perspektive, inwiefern zivilgesellschaftliches Engagement gewürdigt, gefordert und ermöglicht wird, zu bewerten. Dass der Kirchentag diesbezüglich eine zentrale Plattform darstellen muss, würde ich ohne Einschränkungen bestätigen.

Ihre Einschätzung, dass der DEKT dieses Ziel völlig verfehlt, kann ich allerdings nur schwer nachvollziehen. Auch wenn ein Fokus auf reine  Veranstaltungsinhalte sicherlich nur eingeschränkt Wesen und Botschaft des Kirchentages verdeutlicht, wurden diesbezüglich in Stuttgart mehr Formate zum bürgerlichen Engagement umgesetzt, als Sie dargelegt haben. Sie erwähnen weder den Thementag „Perspektiven demokratischer Kultur“ noch die Open-Air-Veranstaltung „Demokratie klug leben – Was bewegt Menschen, etwas zu bewegen?“ Diese beiden Formate wurden ganz konkret aus der Wahrnehmung heraus konzipiert, dass die Zivilgesellschaft als besonderer Machtfaktor und Verantwortungsträger in einen besonderen Fokus gestellt werden muss.

Sie schildern völlig richtig, dass es den Vorbereitenden des Zentrums Älterwerden und des Zentrums Gemeinde wichtig war, die Bedeutung soziale Verantwortung von Kirchgemeinden, Nachbarschaften, Vereinen und engagierten Privatpersonen besonders hervorzuheben. Sie waren aber keinesfalls die Einzigen. Im Zentrum Bildung in Bewegung wurde in der dreistündigen Veranstaltung„Nur noch kurz die Welt retten – aber wie?“ nationale und internationale Initiativen zugunsten eines sozialen Ausgleichs vorgestellt und prominent gewürdigt (es gab sogar eine beachtliche spontane Kollektenaktion auf Wunsch des Publikums). Im Rahmen desZentrums Mobilität, Energie, Ressourcen wurde der Nachhaltigkeitspreis „GemeindeN“ durch Ministerpräsidenten Landesbischof an ökologisch engagierte Kirchgemeinden vergeben. Die Planspiele „Ist das schon rechts?“ und „Willkommenskultur“  haben mit außerordentlichem Erfolg der großen Nachfrage nach praxisorientierter Hilfestellung für Engagementinteressierte entsprochen.

All diese Formate vermisse ich in Ihrer Analyse zum Thema. Sie hätten allein der Vollständigkeit halber eine Erwähnung in Ihrem Blog verdient.

Darüber hinaus war der Markt der Möglichkeiten wie auch bei den vergangenen Kirchentages ein zentraler Ort für über 900 Initiativen, Projekte und Gemeinden ihre Arbeit vorzustellen und in einen Dialog zu treten. Er erfreute sich trotz großer Hitze allgemeiner Beliebtheit und bildete das thematische und lokale Zentrum unserer Zeltstadt im Neckarpark. Die dort angebotenen Podien und Workshops werden von den Akteuren des MdM selbst inhaltlich eigenständig verantwortet: eine Spielwiese der (christlichen)Zivilgesellschaft.

Während des Kirchentages wurden 16 Resolutionen zu unterschiedlichen Themen eingereicht. 10 davon wurden von den Teilnehmenden beschlossen und werden in den nächsten Tagen den entsprechenden Adressaten zugestellt.https://www.kirchentag.de/programm/resolutionen.html

Durch diese Verfahren ermöglichen wir es Einzelpersonen und kleineren Initiativen wichtigen Anliegen Stimme und Gehör zu verschaffen. Dieses basisdemokratische Element wird verstärkt genutzt.

Joachim Gauck nannte den Kirchentag in Stuttgart ein Festival des Ehrenamtes. Er bezog sich dabei natürlich zum einen auf die Anzahl von fast 50000 ehrenamtlich Mitwirkenden. Zum anderen machte er aber auch deutlich, dass der Kirchentags als Bewegung bürgerschaftlichen Engagements eine Vorreiterrolle in Deutschland einnimmt.

Für mich wird aus Ihrer Kritik deutlich, dass wir unsere inhaltlichen Schwerpunkte transparenter kommunizieren müssen. Ebenso teile ich Ihre Einschätzung, dass themenübergreifende „Schulterschlüsse“ zwischen einzelnen Formaten deutlichere Signale versprechen würden. Hier stehen wir eher vor organisatorischen Herausforderungen bedingt durch die parallel erfolgende Planung in einzelnen Projektleitungen.

An den Rand drängen wollten wir das Zentrum Gemeinde im Übrigen nicht. Die Verortung der einzelnen Formate war in Stuttgart ungleich schwerer als vergleichsweise in Hamburg. Die räumlichen Anforderungen des Zentrums Gemeinde mit seiner Veranstaltungspluralität erschwerten die Suche. Wir werden beim nächsten Kirchentag in Berlin versuchen, dafür einen Ausgleich zu schaffen.

Sie erkennen an meiner ausführlichen Antwort, dass sie mir ein echtes Anliegen war. Ich kann und möchte meinen Widerspruch zu den Aussagen Ihres Blog nicht unausgesprochen lassen.  Gern hätte ich den Beitrag direkt und öffentlich kommentiert, konnte diese Option aber nicht finden.

Trotz unseres Dissens zum Thema, der ja sehr gern bestehen darf, möchte ich mich nochmals für Ihre kritische Begleitung des Kirchentages und Ihr Feedback bedanken. Sie ermöglichen es uns, eine lernende Bewegung zu bleiben.

Für Rückfragen, Kritik oder weitere Anmerkungen stehe ich Ihnen natürlich jederzeit sehr gern zur Verfügung.

Herzliche Grüße

Mario Zeißig

Referent Thematisches Programm

Deutscher Evangelischer Kirchentag

Postfach 15 55| Magdeburger Str. 59

36005 Fulda   | 36037 Fulda

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Meine Antwort-Mail

 Lieber Herr Zeißig, danke für Ihre ausführliche Antwort.
Ich kenne den Kirchentag als Institution lange durch meine Mitarbeit im publizistischen Ausschuss und den Besuch aller zurückliegenden Kirchentage in den letzten 15 Jahren. Meine Einschätzung ist also keine punktuelle.
Dass die Zukunft der Kirche kein Anliegen ist, das in seinen unterschiedlichen Facetten auf dem Kirchentag zentral verhandelt wird, – und da ist die Beziehung zur Zivilgesellschaft mit dem Unterfall der Beziehung Kirche-Diakonie ein wichtiger Aspekt- möchte ich weiterhin trotz Ihrer mannigfaltigen Hinweise aus dem Programm  behaupten. Ich bin mir auch nicht sicher, ob eine tief Debatte an zentraler Stelle des Kirchentags wirklich gewollt wird. Kirchentag ist als eine Veranstaltung sui generis entstanden. Von der Genese her besteht also eine Distanz zur Amtskirche und deren Debatten. Aber ist diese historische Position noch richtig?
Und wie sieht es mit den Kirchenführern aus: Drängen sie darauf, mit dem Kirchenvolk darüber zu diskutieren, ob sie die richtigen Wege einschlagen? Haben sie ein Interesse an einem Vergleich der Teilkirchen unter verschiedenen Leistungs-Gesichtspunkten? Möchten sie sich international messen lassen? Sind sie beispielsweise bereit, in großer Runde zu erklären, warum seit dreissig Jahren Delegationen nach England aufbrechen und fresh expressions studieren, aber kaum etwas davon in die hiesige Wirklichkeit kommt? Als der englische Bischof Steven Croft im Zentrum Gemeinde sprach,
(im Netz auf der deutschen Seite von fresh expression unter Kirchentag nachlesbar) hat sich -oder habe ich mich getäuscht?-  kein einziger Verantwortlicher aus der ersten Reihe dafür interessiert, geschweige denn Rede und Antwort gestanden. Zufall? Ich glaube das nicht. Nun mögen Sie fragen, was Kirche und Zivilgesellschaft und Mission miteinander zu tun haben? Genau dies halte ich für die essentielle Frage, die auf Klärung drängt.
Das Nachdenken muss in einem Dialog zwischen Kirche und Zivilgesellschaft gesucht werden. Dieses Nachdenken hat begonnen.
Darf ich Sie auf die Beiträge im Forschungsjournal Soziale Bewegungen (Heft 1/15) mit dem Schwerpunkt „Kirche in Bewegung“ und auf den Wegweiser Bürgergesellschaft Nr.10/2015 mit dem Schwerpunkt“Kirche und Zivilgesellschaft“ ( im Netz unter Wegweiser Bürgergesellschaft 10/2015 nachzulesen) hinweisen? Keiner der Autoren war -mit Ausnahme von Frau Coenen-Marx, die zu einem anderen Thema sprach- auf dem Kirchentag vertreten. Das ist der Maßstab meiner Kritik
Es gab große Momente beim Kirchentag (Gauck/Rosa habe ich erlebt, von Melinda Gates gehört), aber die Kritik bleibt: Kirche verliert immer weiter an Reichweite und Relevanz und der Kirchentag bleibt ungerührt. Das ist nicht nur  merkwürdig, sondern ruft nach Änderung. Oder?
Mit herzlichen Grüßen
Henning v. Vieregge
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