„Making Kirche, Making Heimat“. Von der Wirksamkeit einer Vision am konkreten Beispiel
Blog 159/Sept. 2017
Guten Tag,
Gerhard Wegner, der Direktor des Sozialwissenschaftlichen
Instituts der EKD, schlägt vor, darüber nachzudenken, ob „sich
selbst als religiös einordnende Menschen über ein spezifisches Sozialkapital verfügen,
das sie von anderen unterscheidet“. Wegner bejaht dies und spricht von „Faith Capital“ in
Anlehnung an eine Diskussion innerhalb der anglikanischen Kirche .
Was heißt das konkret? Die katholische Pfarrei St. Ursula in Oberursel und Steinbach
hat in einem ungewöhnlichen Visionsprozess Bürger in ihrem Wohnumfeld nach ihren Vorstellungen
von Kirche befragt, die Ergebnisse ausgewertet und in einem Visionstag mit über
200 Teilnehmerinnen und Teilnehmern diskutiert und zu Kernaussagen verdichtet. Dieser
Text wurde in mehreren Runden diskutiert. Er gibt einen starken Eindruck davon, was christlich
geprägtes Sozialkapital bedeutet. Es wirkt nach innen und außen. Kirche kann unter
ihrem Dach Heimat bieten und in ihrem Umfeld mithelfen, Menschen, gleich welchen
Glaubens und welcher Herkunft, ob Alt- oder Neubürger, zu beheimaten.
Kirche als Heimat? Dass Kirche beheimaten kann, zeigt der Romancier Irvin D. Yalom
eindrucksvoll in seinem Buch „Das Spinozaproblem“ an den aus der Amsterdamer jüdischen
Gemeinde verstoßenen Philosophen Baruch Spinoza und seines ihm freundschaftlich
verbundenen Franco, der im Laufe der Geschichte als Anhänger Rabbiner in Spinozas ehemaliger Gemeinde wird.
Spinoza fragtFranco, wie er mit seiner aufklärerischen Gottesvorstellung praktizierender Rabbiner
werden könne. Franco fügt seinem ersten Argument, er müsse schließlich, wenn er von innen reformiere wolle und es gehe nur von
innen, das Vertrauen seiner Gemeinde haben, ein zweites hinzu. Man könnte es überschreiben mit „Daheim mit den Ritualen“:
Wenn ich meine zeremoniellen Pflichten
erfülle, achte ich oft nicht auf den Text
der Gebete und verliere mich im Ritual und
in der angenehmen Woge der Gefühle, die
über mich hinwegstreicht. Die Gesänge inspirieren
mich und versetzen mich in Verzückung
… Ich fühle mich zu Hause, fast, als
sei ich mit meinen Leuten vereint … Ich
denke an meine Vorfahren, die seit zweitausend
Jahren dieselben Zeilen sprechen, dieselben
Gebete sprechen, dieselben Melodien
singen. In diesen Momenten schwindet
meine Selbstherrlichkeit, mein Gefühl, von
ihnen getrennt zu sein, und ich werde Teil,
ein sehr kleiner Teil eines ununterbrochenen
Stroms einer Gemeinschaft.“
Auch der aus seiner Glaubensgemeinschaft lebenslänglich verstoßene Spinoza
kennt eine solche Sehnsucht: „Ich lauschte der Zeremonie, spürte, wie eine angenehme
Wärme in mir aufstieg, und ich fühlte mich seltsamerweise zu dieser Gemeinschaft hingezogen.“
Heute werden Menschen nicht mehr aus der Kirche verstoßen, sondern treten aus. Sie
verstoßen sich selbst. Vermissen sie etwas, wie es in der Geschichte Spinoza und sein
Freund taten? Nur dann, wenn Kirche lernt, stärker auf Menschen zuzugehen, nicht im
Kirchraum zu warten, sondern ins Quartierzu gehen. Von Steinbach ist es ein Steinwurf
nach Niederhöchstadt. Das Jahresmotto der Andreasgemeinde 2017 Eschborn Niederhöchstadt
lautet: WillKOMMen daHEIM. Dies ist ein Weg, den Kirche gehen kann:
einladender zu werden gegenüber denen, die sich irgendwann in ihrem Leben gegen das
kirchliche Angebot entschieden haben, aber eine ungestillte Sehnsucht spüren. Die „angenehme
Wärme der Gemeinschaft“, von der Yalom seine Titelfigur Spinoza sprechen
lässt, kann eine kirchliche Gemeinschaft bieten, die Gastfreundschaft lebt und offen lässt,
ob aus dem Gast ein Anhänger, ein Gläubiger, wird oder eben nicht. Dies ist der Weg,
der, so habe ich die Form der Suche und das Ergebnis verstanden, mit der Vision eingeschlagen
wird. Die Vision wird Kräfte frei setzen.
Jede Vision macht übrigens eine
Gemeinde attraktiver, vor allem dann, wenn sie nicht von oben diktiert, sondern von
unten erarbeitet und gegen Kritik von oben verteidigt wird. Die der Kirche stark Verbundenen,
ohnehin die besondere Kraft der Bürgergesellschaft, werden dadurch noch stärker. Die Wirkung wird eine doppelte sein.
„Making Heimat“ heißt eine Ausstellung, die in 2017 bis September im Frankfurter Architekturmuseum
gezeigt wurde. Heimat ist nichts, was einfach da ist. Heimat muss gebaut werden. Von den Alt- und Neubürgern gleichermaßen. Das ist
die Kernbotschaft dieser Ausstellung. In Abwandlung könnte man mit Blick auf die Vision
sagen: „Making Kirche, Making Heimat“.
Mit herzlichen Grüßen
Henning von Vieregge
(Der Beitrag ist gerade im Pfarrbrief der Gemeinden Herbst 2017 erschienen. Auf der Website der Gemeinde ist der Visionsprozess ausführlich beschrieben. Dort steht auch das Ergebnis, an dessen Umsetzung nun gearbeitet wird.)