Heimat und Epistula -Briefwechsel mit einem Schweizer

12 Jul
12. Juli 2020

Beitrag 236/Juli 2020

Guten Tag, mein Schweizer rotarischer Freund Reto Fritz schreibt weiter seine Epistula und ich antworte mit einem Brief, in dem ich ihm durchbuchstabiere, was Rotary und Heimat zusammenbringt.

Lieber Reto
Du hast mich gefragt, ob ich ein Motto für mein rotarisches Governor-Jahr habe. Ich erzählte Dir, dass mein Leitwort „Offene Heimat Rotary“ heißt. Die Ratlosigkeit in Deinem Gesicht war unübersehbar. Da es keine Zeit zu Erklärungen gab, habe ich dir angeboten, Dir einen Brief nach Zürich mit Erläuterungen zu schreiben.
Wie anfangen? Ich beginne mit Rotary. Wir sprechen uns bei Rotary, wie Du ja weißt, mit “Freund xy“ unter Weglassung aller Titel an. Dahinter steckt ein ziemlich breiter Begriff von Freundschaft, fast so breit wie bei Facebook. In Deutschland gibt es 56.000, in der Schweiz 14.000 und weltweit 1,5 Mio Mitglieder. Allgemein gilt: Was früher „Bekannte“ waren, wird heute unter die Rubrik „Freunde“ gestellt; Freunde oder solche, die es werden können, „Verdachts-Freunde“ könnte man sie nennen. Sie werden behandelt als ob… Darüber kann man lästern, geschieht ja auch nicht selten. Aber bei näherem Nachdenken entdeckt man den Wert einer solchen Regel: Uns Rotarier (immer auch weiblich zu denken) soll Freundschaft verbinden. Wir sollen uns freundschaftlich zueinander verhalten; zivile Umgangsformen wären das Mindeste. Diese Verabredung schafft innerhalb der Clubs ein Klima, in dem man sich besonders wohl fühlt. Ja, Rotary wird so zur Heimat, gewiss nicht als wichtigste Quelle von Heimat, aber doch für viele als eine Quelle mit besonderer Heilwirkung. Jedenfalls für diejenigen Rotarier, die sich einigermaßen regelmäßig bei den unterschiedlichen Anlässen in Beziehung zueinander begeben, dabei von sich preisgeben und sich in freundschaftlicher Duldsamkeit Generationsunterschieden und anderen Meinungen aussetzen. Die ganze rotarische Community steht dem einzelnen Rotarier als eine weltweit agierende Freundschaftsbewegung offen und nicht wenige Mitglieder machen davon Gebrauch, beispielsweise bei Auslandsreisen oder übernationalen rotarischen Zusammenkünften wie zuletzt bei der Welt-Convention in Hamburg, wo fast 30.000 Rotarier zusammen kamen. Nicht zu vergessen der Jugendaustausch, der größte dieser Art durch eine zivilgesellschaftliche nicht profitorientierte Organisation, oder durch die breit gefächerte Stipendiatenförderung. Und: Dadurch, dass Aktionen und Aktivitäten in die Gesellschaft getragen werden, schafft Rotary auch nach außen Heimat, besonders im lokalen Umfeld.
Wer sich engagiert, liefert nicht nur Zeit und Geld und Know How. Das Entscheidende ist, dass Hilfe Wertschätzung erzeugt. Oder besser: erzeugen kann. Und zwar auf beiden Seiten, auf Seiten des Helfers und dessen, dem geholfen wird. Der Helfer ändert durch sein Tun seine Perspektive, er sieht nun die Welt nicht wie gewohnt und das heißt

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zumeist: aus privilegierter Sicht. Der Helfer lernt so seine Heimat anders und genauer kennen. Wie lebt es sich als Obdachloser? Was denkt ein Kind, das behindert ist? Wie lässt sich Gemeinsinn fördern? Wie gewinnt man Menschen für die Zivilgesellschaft, vielleicht sogar für Rotary? Was muss man tun, damit Menschen, die sich abseits fühlen, wieder oder erstmals Selbstvertrauen spüren? Die Wertschätzung, die dabei dem anderen gilt, hilft diesem, seinem Platz in der Gesellschaft zu finden oder wiederzufinden. Das kann bedeuten, dass fremd gewordene Heimat wieder als Heimat angenommen wird, nicht so wie früher, aber auch so o. k. So gelten das Angebot der Freundschaft und das Angebot zur Beheimatung nicht nur rotary-intern, sondern finden ihren Platz im lokalen Umfeld, aber auch weit darüber hinaus bis ans Ende der Welt.
„Offene Heimat“ steht für eine Vorstellung von Heimat, die nicht statisch ist. Sie ist vielmehr im Fluss, wechselt zwischen den Ufern Beheimatung und Entheimatung mäandernd für den Einzelnen und die Vielen. Die Offenheit heißt freilich nicht grenzenlos offen, das wäre naiv weil überfordernd. Integration hat Grenzen. Aber prinzipiell sind Neue und Neues willkommen, im Club ebenso wie in der lokalen, nationalen, europäischen und Welt-Gesellschaft. Die europäische Hymne „An die Freude“, von Schiller geschrieben, von Beethoven vertont, enthält die berühmte Zeile „Alle Menschen werden Brüder“. Was für ein Ziel! Mindestens, möchte man anmerken, sollte gelten: „Alle Menschen werden Freunde“. Die Ursprungsfassung des Gedichts war übrigens radikaler: „Bettler werden Fürstenbrüder, wo dein sanfter Flügel weilt.“ Damit wäre man dann noch tiefer im Wunschdenken, der Weg zur Realisierung wäre noch steiniger. Die Empfehlung ist, bei sich anzufangen, also sich selbst Freund zu sein, und über die Nächsten und mit den Nächsten in das lokale Umfeld zu wirken und dabei den globalen Zusammenhang zu beachten.
Auf dem Weg zur breit angelegten Verfreundung beschreiben Beobachter ein dickes Hindernis : Es geht um den Gegensatz zwischen denen, die meinen, auf Heimat verzichten zu können und jenen, die mit besonderer Hartnäckigkeit ihre Vorstellung von Heimat verteidigen wollen. Brüsk in den Worten von Reimer Gronemeyer heißt der Gegensatz „Edel-Nomaden versus Volkspüree“. Ist dieser Gegensatz real oder wird er nur politisch behauptet und in spalterischer Absicht genutzt? Meine Antwort ist zwiespältig: Ja, es gibt diese Kluft. Aber es ist nicht die einzige Zerreißprobe in der Gesellschaft. Arm- reich, Stadt-Land, arbeitslos-in Arbeit, in Arbeit zufrieden-in Arbeit unzufrieden usw.; ich erzähle im weiteren Text von all diesen Gegensätzen. Die politische Nutzung konzentriert sich aber auf die Polemik gegen Globalisierer und deren Befürworter. Die Gegnerschaft ist bei den Extremen zu Hause: Es wird rechts nationalistisch und antikapitalistisch und links antikapitalistisch argumentiert. Das sind eigentlich historisch bekannte Angriffsformationen auf die Demokratie, jetzt nur gegen die Globalisierung gewendet. Die Kompliziertheit und Vulnerabilität, aber auch die Chancen der modernen Gesellschaft, von Gesellschaftstheoretikern als die zweite, oder auch fluide Moderne bezeichnet, wird bei diesem Angriff außer acht gelassen oder versimpelt. Dagegen muss man sich wehren und darf nicht in Überanpassung diesen Gegensatz nachplappernd verschärfen. Man kann auch aus der Praxis dagegen halten. Schließlich sind diejenigen, die auch als Bessersituierte bezeichnet werden, unter den engagierten Bürgern, immerhin einem guten Drittel der Gesellschaft, weit überdurchschnittlich zu finden. Allerdings ist andererseits nicht abzustreiten, dass nicht wenige der Bessersituierten oder auch Globalisten sich selber und ihresgleichen erfreuen und sich weder hierzulande noch weltweit in die Pflicht nehmen lassen, wie es für einen Rotarier beispielsweise selbstverständlich sein sollte. Wer sich, besonders im Alter, nicht wirklich einbringt, bleibt etwas schuldig, nicht nur der Gemeinschaft, sondern auch sich selbst. Wer sich nicht engagiert, obwohl er es könnte, verpasst die Chance, die Zukunft der Menschen besser zu machen. Nach mir die Sintflut? Besser wäre doch Sinnflut, die übrigens nicht aus der Quelle Altruismus sprudelt, sondern sich aus reziprokem Egoismus, der Resonanz der anderen, speist. Selbstkritisch sollten sich aber auch die aktiven Bürger prüfen, ob sie im Engagement, bezogen auf die beschriebene Kluft, wirklich mehr Nutzen als Schaden anrichten. An dieser Stelle kommen Rotary und die Rotarier ins Blickfeld. Sie wollen mit ihren Projekten Brücken bauen und nicht einreißen. Wenn man letzteres vermeiden will, muss man sich über die Gefahren im Klaren sein. Ich möchte aber auch zeigen, dass geglückte Aktivitäten Vertrauen schaffen und aus Vertrauen Beheimatung erwächst. Ein wichtiges Beispiel ist die Nutzung des 3. Oktober zwischen thüringischen und hessischen Clubs unter dem Signum der erreisten und gezeigten Heimatliebe. Auch wird von verantwortlichen aktiven Rotariern eine Auswahl von acht Leuchtturm-Engagements zum Thema „Offene Heimat Rotary“ (je einer aus einer Region im Distrikt 1820) vorgestellt. Das sind eindrucksvolle Beispiele gegen die Instrumentalisierung der Heimatdebatte, in der sich die bösen Globalisten und die guten Heimatbewahrer gegenüber stehen. Mit Rotary ist ein Instrument geschaffen, mit dem institutionell gleichermaßen nachhaltig wie beispielgebend die Vision von der Freundschaft vorgelebt und ein Stück weit ermöglicht wird. Der Leitspruch „Offene Heimat Rotary“ ist somit beides: Wirklichkeitsbeschreibung und Aufforderung.
Mit herzlichen Grüßen
Dein Henning
Der Beitrag „Was Rotary ist- die fünf Essentials“ ist hier abrufbar: https://rotary.de/gesellschaft/was-rotary-ist-fuenf-essentials-a-15486.html

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