Wehrt Euch! Wege aus der Altersfalle

02 Mai
2. Mai 2020

Blog 231/Mai 2020

Guten Tag,

zu dem Beitrag,der nachfolgend abgedruckt ist, schrieb mir mein Freund TS eine Mail, die ich auszugsweise wiedergeben möchte, verbunden mit einer Antwort. Beides hilft nochmals , den Gedankengang des längeren Beitrags einzuordnen. Menschen über 65 tragen, wenn die bishewrigen Forschungsergebnisse zu Corona sich bestätigen, ein anderthalbfaches Ansteckungsrisiko gegenüber Jüngeren, Kinder hingegen sind der Ansteckung nur zu einem Drittel ausgesetzt. Hier wird von einem „Normalo“ ausgegangen, mittleres Alter, keine Vorerkrankungen. In Wirklichkeit variiert die Ansteckungsgefahr individuell erheblich. Kommunikation aber drängt auf Verallgemeinerung.

TS schreibt

Lieber Henning,

danke für Deinen sehr lesenswerten Beitrag „Wehrt Euch! Wege aus der Altersfalle“. Er verdeutlicht den Generationenkonflikt in der aktuellen Corona-Krise und zeichnet einen nachvollziehbaren Weg für dessen Überwindung im Sinne einer Generationensolidarität.

In der Tat, es droht die Rückkehr zu als überwunden geglaubten Altersbildern. Die Formeln „Wer heute alt ist, ist morgen tot“ und „Alt gleich krank“ sind immer noch präsent. Ein Beispiel: Dem Grünen-Politiker Boris Palmer, OB von Tübingen, stößt vor allem der Schutz älterer Menschen auf. „Ich sage es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären – aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankungen. Wenn Sie die Todeszahlen durch Corona anschauen, dann ist es bei vielen so, dass viele Menschen über 80 sterben – und wir wissen, über 80 sterben die meisten irgendwann….“ Also: Alle Alten sind ein Risiko. Politisch-ökonomisch: Dem Schutz des Lebens darf in der derzeitigen Krise nicht alles andere untergeordnet werden (Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble).

Die Bekämpfung der Corona-Pandemie und die Diskussionen um die Lockerung der Maßnahmen geraten zum Generationenkonflikt: Auf der einen Seite steht die Gesundheit der Alten und Schwachen, auf der anderen das Wohlergehen und die wirtschaftliche Existenz der Jüngeren. Ein schweres moralisches Dillemma. Schon fragt manch einer: Ist es richtig, die Rücksicht auf Alte zur obersten Priorität der Anti-Corona-Maßnahmen zu machen? Ist es zu verantworten, enorm hohe Beträge für die Alten, die ‚ökonomisch unproduktiv‘ sind, aufzuwenden? Wie viel ist ein Mensch, insbesondere ein alter Mensch, eigentlich wert?

Es gibt den Spruch: „Solange man gesund ist, hat man alles…“ Mit Bezug auf die Senioren in den Altersheimen trifft dieser Spruch nicht zu. Die Gesundheit der meisten mag geschützt sein, aber der Preis ist der Verlust der Begegnung und vieler wichtiger Dinge und Gewohnheiten des täglichen Lebens. Auch durch den Schutz der Gesundheit scheint das Glücksgefühl im „heimischen Umfeld“ nicht zu steigen. Eher macht die Quarantäne viele Menschen unglücklich und damit jegliches Glücksgefühl zunichte.

Diejenigen, die in erster Linie Menschen retten wollen, halten es für zynisch, dass Menschenleben für Wirtschaftsinteressen geopfert werden. Diejenigen, die für einen Neustart der Wirtschaft sind, argumentieren damit, dass auch ein Zusammenbruch der Wirtschaft Menschenleben kostet. Noch nie in der Geschichte hat sich eine Infektion so schnell über den gesamten Globus verbreitet. Die CV-Pandemie ist die Schattenseite unserer Mobilität. Dass sie die Welt so völlig unerwartet traf, ist auch darauf zurückzuführen, dass die Wissenschaftler, die schon vor gut 15 Jahren vor einem solchen Szenario gewarnt haben, nicht ernst genommen wurden. Das mangelnde Problembewusstsein zeigt Ähnlichkeiten mit der Klimaforschung: Die Wissenschaftler, die sich mit der Thematik befassen und vor der Gefahr warnen, werden da wie dort nicht ernstgenommen.

Meine Antwort
Lieber T.

Man muss nur aufpassen, dass man auf die Gleichung alt ist gleich krank gleich gefährdet nicht hereinfällt. Entscheidend ist nicht das Zählalter, sondern der Gesundheitszustand. (Unabhängig davon,dass die Pandemie auch Kerngesunde niederstrecken kann).
Und das Gegenteil von medizinischem Tod ist nicht allein der wirtschaftliche sondern auch der soziale Tod.
Die Frage „Sie wollen wohl, dass noch mehr Menschen um der Wirtschaft willen sterben?“ ist eine einseitige Moralfrage.
In Entwicklungsländern kann man das sofort kapieren, bei uns mit Politikern, die so tun, als hätte der Staat für einen unendlichen Zeitraum unendliche Möglichkeiten, ist der Gedanke schwieriger zu vermitteln.
Hätte sich Boris Palmer, ein Polemiker von hoher Qualität, nicht auf Lebensalter und alte Menschen in seiner Polemik bezogen, hätte man seine Aussage ernsthaft diskutieren müssen.
Medizinethiker halten es für wünschenswert, dass durch Vorerkranken hochgefährdete Menschen die Gelegenheit erhalten, über ihre persönliche Entscheidung im Falle einer Erkrankung nachzudenken und diese niederzuschreiben. (bei denen es möglich ist)

Der Beitrag:

im Gefolge von Covid 19 können die Bemühungen von Experten, für ein differenziertes Altersbild zu sorgen, davongefegt werden. Es droht die Rückkehr zu längst überwunden geglaubten Altersbildern. Jahrhunderte lang galt der Erfahrungssatz: „Wer heute alt ist, ist morgen tot.“ Auf diese Aussicht sollten sich die Alten einstellen, sie sollten beten und sich nicht länger ins Alltagsgeschehen einmischen und schon gar nicht ihre Interessen vertreten. Noch in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hieß es seitens der Politik: Goldener Handschlag und ab in den Ruhestand, verbunden mit der Behauptung, dies sei Generationensolidarität. Als ob Arbeitsplätze eine feste Größe sind, geht der eine, kommt der andere. Mittlerweile hatte die Empirie dieses traditionelle Altersbild ad absurdum geführt: Geht man heute von der hierzulande gelernten Alters-Markierung 65 Jahre aus, dann sind diejenigen jenseits von 65 mittlerweile noch überwiegend fit und lassen sich –Alt 68er!- auch nicht beiseite drängen
Dieser Erkenntnis- und Realitätsfortschritt ist nun ernsthaft in Gefahr. Das alte Schema „alt gleich krank“ wird in Covid 19 Zeit wieder hervorgeholt, alle Alten werden zur Hochrisikogruppe ernannt, und sie werden aufgefordert, sich zurückzuziehen und die anderen machen zu lassen. Es lebe die soziale Distanz! Fehlt nur noch, dass der Staat, dessen Führung behauptet, Geld spiele bei der Bekämpfung der Pandemie keine Rolle, für freiwilligen Rückzug eine Prämie auslobt. Bei null Direktkontakten gibt es

die Höchstsumme.
Was notwendig wäre, ist nicht vorhanden, leider noch nicht: Um Pauschalierungen wie „Alle Alten sind ein Risiko und gehören eingesperrt“ zu vermeiden, bedarf es individueller Risikoeinschätzungen durch Mediziner. Das Ergebnis müsste man in Form eines digitalen Gesundheitspasses bei sich haben. Sofort würde deutlich werden: Zuordnungen nach chronologischem Alter sind medizinisch falsch und gesellschaftlich ein Übel. Bekommt das Gesundheitssystem es hin, Mediziner rasch und entsprechend auszubilden? Digitalisierung jedenfalls hat allenthalben –man denke an die vielen Homeoffice Plätze- durch die Pandemie einen neuen Schub erfahren. Warum sollte es nicht möglich sein, für diejenigen, die das wollen, endlich eine digitale Akte herzustellen, aus der im Falle des Falles auch schon der Notarzt sich informieren kann und den Patienten nicht aus Unwissenheit falsch behandelt?
Mit jenen, die ein hohes Risiko bei Ansteckung tragen, sollte über deren (Nicht-)Behandlungswunsch professionell gesprochen werden. Nicht jeder will ans Beatmungsgerät. Um nicht missverstanden zu werden: Alles ohne Anordnung, alles auf freiwilliger Basis.
Und dann gibt es ja noch alle jene, die schon jetzt und auf absehbare Zeit eingesperrt sind. Hier schlägt –man kann sagen: mal wieder- die Stunde der Zivilgesellschaft. Wenn endlich der Test zur Überprüfung vorliegt, ob -vielleicht unbemerkt- schon Immunität erreicht wurde, dann sind diese Menschen, wiederum auf freiwilliger Basis, hochgeeignet, um den Seelenschaden der Pandemie zu lindern: Besuche in Altersheimen und Krankenhäusern und bei einsamen Nachbarn. Auch dies muss vorbereitet und staatlich unterstützt werden.
Ob es je eine Rückkehr in die vorherige Normalität gibt, kann einem niemand sagen. Die einen Experten behaupten, die Pandemie markiere einen tiefen Einschnitt in der neueren Menschheitsgeschichte, andere lassen uns wissen, das Wahrscheinlichste sei das Wiederaufleben des Gewohnten. Die zweite Position spiegelt die individuelle Sicht, die erste die politisch-ökonomische.
Im jetzigen Kampf gegen die Pandemie geht es aber darum, die Kluft zwischen alt und jung durch aktivierte Vorurteile nicht aufzureißen, sondern im Gegenteil alle jene Älteren, die sich dazu in der Lage fühlen, zu ermuntern, sich am solidarischen Bemühen gegen das Abhängen ganzer Gruppen der Gesellschaft zu beteiligen. Die Älteren, die nicht in die Hilflosigkeit gedrängt, sondern zum Helfen ermuntert werden, wirken nicht nur seelen- und resilienzstärkend für Andere, sondern auch für sich.

Mit herzlichen Grüßen
Henning v. Vieregge

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