Wir werden älter und das ist gut so.

29 Jan
29. Januar 2016

Blog 113/Febr. 2016

Guten Tag,

der Schweizer Soziologe Peter Gross hat in seinem Buch „Wir werden älter. Vielen Dank. Aber wozu?“ einige spannende Thesen zum älter werden entwickelt. Ich greife zwei heraus.

Im Zusammenhang mit der Flüchtlingswelle wird in Deutschland einmal mehr die Polemik gegen die Vergreisung der Gesellschaft aus der Argumentationskiste geholt, um  dagegen dann die Jugendlichkeit der Flüchtlinge zu setzen. Als ob die Jugend der Flüchtlinge ein Wert an sich ist. Gross: „Die Altersgesellschaft ist weder Albtraum noch evolutionäre Sackgasse, sondern das in langen Auseinandersetzungen erkämpfte Ergebnis einer freiheitlich offenen Gesellschaft.“ Die Altersgesellschaften wie Deutschland, Österreich, Schweiz, Japan seien „keineswegs die Schlusslichter der Weltzivilisation, sondern Weltmarktführer der Mäßigung.

Man muss sicher acht geben, dass auf die übertrieben euphorische nun nicht eine übertrieben pessimistische Debatte über die Chancen der Integration der Flüchtlinge geführt wird. Das konsequent nicht-defizitäre , sondern auf die Gewinnmöglichkeiten ausgerichtete Nachdenken öffnet Chancenfenster. Man muss sich aber auch fragen, was für unser Leben essentiell ist und keineswegs preisgegeben werden darf. Die größte Gefahr liegt in krampfhafter Beschönigung durch Faktenmissachtung und vorwegnehmender Selbstzensur.

Der Hinweis von Peter Gross auf den zivilisatorischen Wert des demografischen Wandels ist wertvoll. Er kann davor schützen, dass aus politischer Opportunität wieder das Überalterungsgeschrei angestellt wird. Vielleicht liegt der Sinn des langen Lebens, so meint Gross, und diers ist der zweite Gedanke, den ich zur Diskussion stellen möchte, in der „Beruhigung und Befriedung einer unduldsamen und sich selbst andauernd überfordernden und letztlich sich selbst verzehrenden Gesellschaft“. Das ist ein steiler Gedanke. Er wird offensichtlich von Reimer Gronemeyer, einem deutschen Fachkollegen, geteilt. Er setzt auf eine „schöne Altersmüdigkeit“ und „eine Art kreativer Passivität“ , mit der die Älteren sich der „Gewalt der Positivität“ und der rasenden Zeit entgegenstellen könnten. (Reimer Gronemeyer, „Alt werden ist das Schönste und Dümmste, was einem passieren kann.“)

Gregor Gysi, das will ich nachtragen, wurde in einem TV-Gespräch am 29.1.2016 gefragt, was die Bedingungen eines Politikers aus der ersten Reihe mit einem machten. Er verliert, sagte Gysi sinngemäß, die Fähigkeit des Zuhörens und damit auch die Fähigkeit, den Anderen zu verstehen. Wie das praktisch passiert? Nun : Ein Ministerium lädt zu einem Sachverhalt kundige Menschen ein, um  „im Dialog mit Ihnen zu lernen“. So etwa steht es in dr Einladung und so etwa sagt es der Minister, die Ministerin, die Staatssekretärin, der Staatssekretär in der Einleitungsrede. Kaum ist die vorüber, beginnt ein Rauschen der Bedeutsamkeit. Dieses Mal ist es das Abrauschen, wenige Minuten vorher war es das Anrauschen. Die Politprominenz zieht ab, sorry, man muss schließlich regieren. Die Hohen Beamten im Schlepptau. Sorry, die werden gebraucht. Spätestens zur Mittagspause verschwinden auch die niedrigen Beamten und dann sind die kundigen Bürger unter sich. Die Veranstaltungsagentur sorgt für Fotos und eine Nachbroschüre, in deren Vorwort die Politprominenz unterstreicht, wie wichtig die Konferenz war, um sich über die unterschiedlichen Standpunkte auszutauschen. „Politik zum Anfassen“ eben. Solches Verhalten ist beileibe nicht nur in der Politik vertreten. Die meisten großen Institutionen haben sich zu derart komplexen Gebilden aufgebauscht, dass die Aktiven pausenlos  zwischen den Binnenakteuren zu moderieren und und die reißenden Netze zu flicken haben.

Die störendste Figur in solchem Gehapsel ist ein Mensch mit Zeit und Ideen. Zeit ist schließlich nicht vorhanden und Ideen werden heute nicht gebraucht und morgen auch nicht. Könnten hier die Älteren und Alten in destruktiver Konstruktivität den Sand des Zweifels und des Fragens in das autistisch funktionierende Getriebe schütten? Oder sind wir chancenlos, wie Gronemeyer, Gross und Gysi, die drei skeptischen Gs, es beschreiben?

Loslassen
 

Mit herzlichen Grüßen

Henning v. Vieregge

 

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