Angela Merkel: alternativlos fehlerfrei? Robert Harris hilft bei Infragestellung
323/Nov. 2024
Guten Tag,
in allen Rezensionen der Merkel-Memoiren ist zu lesen, dass die langährige Kanzlerin keinen Grund sieht, sich Fehlhandeln zuzuschreiben. Wenn das stimmt, wäre das erstaunlich, denn jeder Mensch macht doch Fehler. Der Roman „Aurora“, der im Jelzin-Russland spielt und sich im Robert Harris-eigenen Mix aus Realität und Fiktion mit dem Erbe Stalins beschäftigt, eignet sich zur Überprüfung, wie die damals führenden Westpolitiker (in Deutschland Merkel, Vorgänger Schröder, Steinmeier u.a.) zu ihrer überaus positiven Lageeinschätzung von Putin kommen konnten, die bis zum 24. Februar 2022 anhielt. (bei manchen immer noch besteht) Das Buch von Harris ziehe ich heran, nicht weil er ein ausgewiesener Russland-Experte ist, sondern weil er vielfach in seinen Büchern gezeigt hat, dass er faktenbasiert wunderbar erzählen kann. Er ist somit leichter zu verstehen als die meisten ausgewiesenen Experten.
Robert Harris zitiert in dem 1998 erschienenen Roman einen fiktiven amerikanischen Journalisten namens O`Brian, der in Moskau lebend die damalige Situation Russlands zur Zeit von Boris Jelzin mit der Weimarer Republik vergleicht. Das Zitat, leicht gekürzt, lautet:
„Erstens, da ist ein großes Land, ein stolzes Land, das sein Imperium verloren hat, im Grunde einen Krieg verloren hat, sich aber nicht vorstellen kann, wie das passieren konnte – also glaubt es, dass ihm jemand einen Dolchstoß in den Rücken versetzt hat, also gibt es massenhaft Ressentiments, richtig?
Zweitens, Demokratie in einem Land, das keinerlei demokratische Tradition hat – die Russen können Demokratie nicht von einem Loch in der Erde unterscheiden –, die Leute mögen sie nicht, haben das ganze diskutieren satt, sie wollen eine starke Linie, irgend eine Linie.
Drittens: Grenzprobleme – massenhaft Volksangehörige leben plötzlich in anderen Ländern, behaupten, dort unterdrückt zu werden.
Viertens Antisemitismus.
Fünftens wirtschaftlicher Zusammenbruch.
Sechstens: Hitler. Noch haben sie ihren Hitler nicht gefunden. Aber wenn es soweit ist – dann sollte die restliche Welt auf der Hut sein.“
Drei Jahre später, 2001, sprach Putin im Bundestag und der Westen, speziell Deutschland, war sich sicher, dieser Staatsmann setzt den Weg seines Vorgängers Boris Jelzin in effizienter Weise um: Russland auf dem Weg in den demokratischen Westen. Gegenläufige Signale, die es später vielfach gab, wurden überhört, weil man sie überhören wollte. So die Warnungen aus den USA, den Staaten des Baltikums oder Polens und, nach der Besetzung von Krim und Donbas, flehentlich die Ukraine.
Zu dieser politischen Schwerhörigkeit passend zitiert Harris einen fiktiven amerikanischen Russlandforscher namens Adelmann. Beschrieben wird Moskau: „Leuchtreklame schwebte über der Stadt wie die Standarten einer Invasionsarmee. Philips, Marlboro, Sony, Mercedes-Benz. Nirgendwo war ein russisches Wort zu sehen. Adelmann: „Das ist der Sieg, den wir vor uns sehen, mein Freund. Der totale Sieg. Von hier aus führt kein Weg zurück.“ Ein Irrtum, dem jener Adelmann keineswegs allein aufsaß. Und eine Arroganz dazu, die Putin die Zustimmung seiner Landsleute zu seinem Handeln vergrößert haben dürfte. Der Roman wurde, daran sei nochmals erinnert, 1998 veröffentlicht.
Mit herzlichen Grüßen
Henning v. Vieregge