Kirche als Akteurin der Zivilgesellschaft
271/April 2022
Guten Tag,
Wer krisenhaft lebt, kann sich einer Sache sicher sein: es wird nicht an Hinweisen mangeln, wie man sich aus der Krise herausarbeitet. Je spektakulärer, umso besser. (Bezogen auf die Wahrnehmungschance). Auch die Möglichkeit, eine Krise schlichtweg in Abrede zu stellen („Uns stört Mitgliederverlust nicht im geringsten“), ist nicht überzeugend. Was also tun? Ein Befund der Umfragen ist unstreitig: Es sind die Pastoren vor Ort, die binden. Ein Pfarrer,m,w oder d, wird als Einzelkämpfer aber wenig ausrichten können, dazu sind die Kirchengemeinden zu komplexe Gebilde. Apropos Gebilde: erst wurden Kirchen gebaut, dann Gemeindehäuser, schlägt jetzt die Stunde der Bürgerhäuser? Adrian Schleifenbaum hat die Argumente zusammengetragen, die dafür sprechen, dass sich Kirche viel stärker als bisher in die lokale Zivilgesellschaft einbettet. Kein Patentrezept, aber ein Weg. Nachfolgend eine Rezension, die im hessischen Pfarrblatt Nummer 2 – 22 Seite 20 erschienen ist.
Mit herzlichen Grüßen
Henning v. Vieregge
Adrian Micha Schleifenbaum, Kirche als Akteurin der Zivilgesellschaft, Göttingen 2021, ISBN 978-3-525-51705-5
Der Autor, Adrian Schleifenbaum, mittlerweile Pfarrer in Gießen, nennt mit dem Titel sein Erkenntnisinteresse: „Kirche als Akteurin der Zivilgesellschaft“. Jan Hermelinks vier auf Kirche angewendete Sichtweisen (Organisation, Institution, Interaktion und Inszenierung) werden mit führenden gesellschaftstheoretischen Ansätzen (vor allem von Ulrich Beck und Zygmundt Baumann) verknüpft. Für Schleifenbaum ist klar: Der gesellschaftliche Trend geht von der soliden zur liquiden Moderne und trifft alle Institutionen. Damit ist es nicht hinreichend, die Zukunft der Kirche allein unter der Veränderung innerkirchlicher Wünsche und Bedingungen zu diskutieren. Befunde aus der Zivilgesellschaft lauten: Menschen wollen durch ihr Handeln gestalten, Orientierung ohne Bevormundung erleben und sind Bindungsangeboten gegenüber zögerlich bis abweisend. Auch Kirche kann diesen Trends nicht ausweichen. Auf der Suche nach zukunftsfähigen Konturen von Kirche für sich und seine Generation hat Schleifenbaum folgerichtig im letzten Drittel seines knapp 300 Seiten Textes einen empirischen Teil angefügt, bei dem insbesondere die Beschreibung aus eigenem Erleben von Fresh X, eine Bewegung der anglikanischen Kirche, die auch in Deutschland Fuß fasst, Lesefreude bereitet. Vergessene Möglichkeiten ergeben sich überdies, zweiter Teil der exemplarischen Empirie, durch eine Rückbesinnung der Einheit von Kirche und Diakonie, durch Gemeinwesendiakonie. Auch nicht kirchlich interessierte Menschen sollten die Möglichkeit erhalten, so der Autor, „Kirche selbstbestimmt und nach eigenen Vorlieben zu prägen.“: Die Folgerung: „Kirche bemüht sich gar nicht erst, die Menschen ihrer Nachbarschaft so zu verändern, dass sie endlich in die Kirche kommen, sondern sie öffnet und verändert sich selbst so, dass Kirche endlich in der Nachbarschaft ankommt.“ Wünschenswert wäre es, wenn dieser weite und durchaus kühne, erfreulich lesbar formulierte Entwurf einer „zivilgesellschaftlichen Kirchentheorie“. (so der Untertitel des Buches) bei den laufenden Reformdebatten in beiden Kirchen nennenswert berücksichtigt würde.