Nachbarschaftshilfe: Auf dem langen Weg zur sorgenden Gemeinschaft? Lernfeld: Zivilgesellschaftliche Gemeinwohlproduktion
Beitrag 268/März 2022
Guten Tag,
Wesentlich Autoren der Universität Mainz haben Ende letzten Jahres einen Sammelband zum Thema „Lernfeld bürgerschaftliches Engagement“ herausgegeben und die Texte geliefert. Die Subzeile heißt „Zwischen erwachsenenpädagogischem Anspruch und gesellschaftlicher Realität“. Die Herausgeber sind Beate Hörr, Leiterin des Zentrums für Wissenschaftliche Weiterbildung der Johannes Gutenberg – Universität Mainz (ZWW), Sebastian Lerch, Professor für Erwachsenenbildung und Bildung an der Universität und dessen Mitarbeiterin Kim Deutsch. Erschienen ist das Buch bei Beltz Juventa, Weinheim, Basel 2021
Ich habe mich, um einen Beitrag gebeten, mit Loring Sittler, dem langjährigen Verantwortlichen beim Generali Zukunftsfonds, der sich in dieser Zeit den Themen Alter und Engagement widmete, zusammengetan. Das Resultat ist hier in der Abgabefassung zu lesen. Wer sich für die Fußnoten interessiert, sei auf das Buch verwiesen. Auch wurde unser Beitrag für die Druckfassung gegendert. Unser Beitrag beschäftigt sich, wie der Titel der Überschrift, der auch der Titel des Beitrags ist, verdeutlicht, mit der Nachbarschaftshilfe und enthält die Beschreibung eines sehr erfolgreichen Beispiels, nämlich der Seniorengemeinschaft Kronach Stadt und Land e. V.
Mit herzlichen Grüßen
Henning v. Vieregge
P. S. Ich habe mich entschlossen, den Text jetzt hier einzusetzen und mich aller Kommentare zum schrecklichen Geschehen in der Ukraine zu enthalten. Ich denke, da kommentieren andere schon genug. Das bedeutet aber nicht, dass Nicht-Kommentierung gleichzusetzen wäre mit Nicht-Hilfe. Die Aufforderungen dazu sind nicht mehr zu zählen. Wir konzentrieren uns auf ein Projekt, dessen Erfolgsaussichten wir außerordentlich hoch einschätzen: Freunde helfen! Konvoi.https://www.freundehelfenkonvoi.de/ Ich empfehle die Homepage
Der Beitrag:
Führende Sozialwissenschaftler haben bis in die Jahrtausendwende einen unaufhaltsamen Abstieg ehrenamtlichen Engagements prophezeit . Die Argumentation klang plausibel: Mit der Säkularisierung wachse das Bedürfnis nach Selbstbestimmung. Damit kümmere man sich mehr um sich selbst und weniger um den Nächsten. Die Bereitschaft, sich für etwas einzusetzen und gar zu binden, nehme ab.
Gott sei Dank haben sich die Unkenrufe als weitgehend falsch erwiesen. Beispiel Hospiz-bewegung : Gerade weil die sogenannte Apparatemedizin so große medizinische Fortschritte ermöglichte, gerade weil das Spezialistentum immer mehr ausfächerte, wuchs der Wunsch nach menschlicher Zuwendung. Generell und besonders für die Phase des Sterbens. Bürger fanden sich, die bereit waren, diese menschliche Versorgungslücke der Medizin mit ihrem ganz persönlichen Beitrag schließen zu helfen. Die klassische Medizin schwenkte ein und baut nun, immer noch ungenügend, Schmerzbehandlung und Palliativ-medizin aus.
Es gibt eben kein vollständiges Verschwinden uneigennütziger Hilfsbereitschaft. Aber was noch wichtiger ist: Mehr Säkularisierung gleich weniger Engagement – diese Formel stimmt nur insoweit, als religiös und kirchlich Verbundene durch besondere Engagementbereit-schaft nach Umfang, Verantwortungsgrad und Dauer hervorstechen . Gleichzeitig verbreitet sich die Erkenntnis, dass Gemeininteresse und Eigeninteresse sich nicht ausschließen und das dies so auch völlig in Ordnung ist. Uneigennützigkeit ist keine Voraussetzung zu freiwilligem, unbezahltem Helfen.
Neue Herausforderungen
Aber nun geht es um neue Herausforderungen.
– Erstens nimmt die Zahl älterer Menschen zu, Stichwort demographischer Wandel.
– Zweitens nimmt der Wunsch zu, dort zu leben und zu sterben, wo ich hingehöre, also daheim, um an einen Buchtitel von Klaus Dörner zu erinnern.
– Und drittens sendet der Staat Signale, dass er sich mit Blick auf die demographische Entwicklung außerstande sieht, die Versorgung seiner Bürger in der bisherigen Weise fortzuschreiben.
Aus diesen drei Entwicklungen folgen Herausforderungen und Chancen. Bürger müssen selbst- und mitverantwortlicher handeln. Sie können Aufgaben besser erfüllen als der Staat direkt. Allerdings soll sich der Staat nicht völlig herausziehen, sondern den Bürger und seine selbstverwalteten Institutionen unterstützen. Man besinnt sich wieder auf Subsidiarität, Dezentralismus und Engagement. Die zusammenführende Vision heißt „Sorgende Gemeinschaft“.
Eine vom Bundesfamilienministerium in die Diskussion gebrachte Definition lautet: Eine „Sorgende Gemeinschaft“ ist das gelingende Zusammenspiel von Bürgerinnen und Bürgern, Staat, Organisationen der Zivilgesellschaft und professionellen Dienstleistern in der Bewältigung der mit dem demografischen Wandel verbundenen Aufgaben.
Ein Begriff macht Karriere
Der Begriff hat Karriere gemacht. Er steht im Mittelpunkt des 7. Altenberichts der Bundesregierung, der unter dem Titel „Sorge und Mitverantwortung in der Kommune – Aufbau und Sicherung zukunftsfähiger Gemeinschaften“ Ende 2016 veröffentlicht wurde .
Daraus zwei Zitate:
„Gegenseitige Hilfe und Unterstützung in der Nachbarschaft und ein lebendiges Sozialleben im Stadtteil, Quartier, Dorf oder in der Siedlung sind keine Selbstverständlichkeiten. Sicherlich kann sich mancherorts eine „gute Nachbarschaft“ auch von selbst entwickeln. Ansonsten gilt jedoch: Nachbarschaften müssen oft erst gestiftet oder ‚wiederbelebt‘ und Begegnungsorte geschaffen werden. Kommunen und andere relevante Akteure der lokalen Politik sollten deshalb entsprechende Maßnahmen auf den Weg bringen und die Voraussetzungen für lebendige Nachbarschaften schaffen.“
„Tragfähige Sorgearrangements leben von einem Ineinandergreifen unterschiedlicher Hil-fen. Segmentierte Hilfen sind zu überwinden, es muss in wohlfahrtspluralistische Hilfear-rangements investiert werden. Das Ineinandergreifen von familiären, nachbarschaftlichen, beruflichen, professionellen und freiwilligen Formen der Hilfe – unter Einbeziehung lebens-dienlicher Technik – bildet die Grundlage für einen tragfähigen, Teilhabe fördernden und ökonomischen Hilfe-Mix“.
Sorgende Gemeinschaften können aus einem Mixtum aus Nachbarn und/oder Freunden, gern als „Wahlverwandte“ bezeichnet, bestehen. Wenn Familienangehörige, etwa Ehepartner, im Einsatz sind, bleiben in Frage kommende Freiwillige entweder in Deckung (fühlen sich nicht gerufen) oder werden sogar ausgegrenzt. In der informellen Form bildet sich die sorgende Gemeinschaft spontan und löst sich danach wieder auf. Entweder, weil sie ihren Zweck erfüllt hat oder weil sie resigniert, zum Beispiel dann, wenn der Anschluss an pro-fessionelle Netze nicht gelingt.
Davon zu unterscheiden sind die formalisierten Netze. Sie sind nicht einzelfallbezogen, sondern auf einen längeren Zeitraum angelegt. Sie haben ein bürokratisches Gerüst und tragen Namen wie Bürgerhilfe. Gemeinsam ist beiden Formen, dass sich die Beteiligten vertrauen. Vertrauen lässt sich nicht befehlen und nicht auf Knopfdruck herstellen. Es braucht dafür Zeit und Erfahrung miteinander.
Der weitest gehende Begriff ist „Inklusionsgemeinschaft“. Er macht deutlich, dass eine lokale Verantwortungsgemeinschaft im Idealfall alle einschließt, die räumlich betroffen sind. Dörner nennt den alten dementen Single die größte Herausforderung. Aber natürlich gehören auch eine alleinerziehende Mutter, die mit ihrem Leben nicht zurechtkommt, oder ein psychisch gestörter Familienvater dazu oder eine syrische Familie, die ihr Leben einrichten will. Thomas Klie: „Ich würde Sorge als anteilnehmende, vorausschauende Verantwortungsübernahme für sich und den anderen beschreiben und damit die Verantwortungsbeziehung, die in der Sorge zum Ausdruck kommt, in den Mittelpunkt stellen“ . Dieses Ziel liegt noch im Zukunftsnebel. Aber es wird angesteuert.
Informelle und formalisierte Nachbarschaftshilfe: Verörtlichung in jedem Fall
Kommunen und andere relevante Akteure der lokalen Politik sollten deshalb die Voraussetzungen für lebendige Nachbarschaften schaffen. Der erwähnte 7.Altenbericht unterscheidet dabei zwischen informeller und formal organisierte Nachbarschaftshilfe. Diese Unterscheidung folgen wir hier.
Informelle Nachbarschaftshilfe ist die unterste Stufe einer sorgenden Gemeinschaft. Daneben gibt es die professionellen Helferstrukturen, die wieder hergestellt oder neu geschaffen werden müssen. Denn sie wurden, man denke nur an die Gemeindeschwester aus Kirchgemeinden, in den zurückliegenden Jahrzehnten abgeschafft. Und nun braucht man sie vermehrt. Dadrüber liegen die lokalen und regionalen staatlichen Instanzen der Sozialhilfe und die professionelle, öffentlich geförderte Wohlfahrt. Alle und alles soll Ineinandergreifen. Man könnte diese Überlegungen als reines Wunschdenken, fern jeder Praxis, abzutun versuchen. Damit liegt man aber daneben. Das Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung hat an einigen Regionalstudien zeigen können, wo dieses Zusammenwirken funktioniert und warum. Am nachdrücklichsten beeindruckte das Beispiel Emsland.
Auch der 2. Engagementbericht, freigegeben im April 2017, beschäftigt sich mit dem Zu-sammenwirken von Bürgern, Staat und Wirtschaft auf der lokalen Ebene und sieht die Begründung für die Fokussierung im Gegenwurf zur Globalisierung und im Zerbröseln familialer Strukturen. Dort heißt es: „Im Sinne eines verbindlichen Zusammenschlusses entstehen so „Wahlverwandtschaften“, denen sich die örtliche Gemeinschaft in dem Maße stärker öffnet, in dem andere, private Netze brüchiger werden oder nicht zur Verfügung stehen. Deshalb dürften Konzepte selbstorganisierter, durch Engagement getragener lokaler Hilfe weiter an Bedeutung gewinnen…Im Zeitalter der Globalisierung gewinnt das Lokale an Bedeu-tung. Der Berichtsauftrag unterstreicht dies. Die Politikwissenschaft interpretiert die Auf-wertung des Lokalen als Kehrseite der Globalisierung. …Der Blick der Sozialpolitik verörtlicht sich, muss sich stärker auf den Ort beziehen“.
Wie groß sind die Chancen der Gestaltung der Nahräume und des nachbarschaftlichen Mit-einanders? Debatten und, zögerlicher, Praxis steuern um.
Informelle Nachbarschaftshilfe
Die informelle Nachbarschaftshilfe umfasst, so der Altenbericht, drei Formen:
– Kleine und kurzfristige instrumentelle Hilfen im Alltag,
– Alltagsrelevante Informationen und Ratschläge
– Emotionale Unterstützung
Um was geht es? Um kleine, spontan erbringbare, kurzfristig anfallende, wenig anspruchs-volle Aktivitäten: Aushelfen mit fehlenden Lebensmitteln, Geräten oder Werkzeugen, kleinere Einkäufe mit erledigen, Pflanzen versorgen bei Abwesenheit, Handwerker oder Besuch in die Wohnung lassen, kurzes und kurzfristiges Kinderhüten. Auch der Austausch von Informationen und Ratschlägen ist ein wesentlicher Teil gegenseitiger nachbarschaftlicher Unterstützung. Klatsch kann in seiner positiven Variante der sozialen Eingebundenheit in örtliche Begebenheiten dienen. Information hilft bei Fragen und Entscheidungen im Rahmen der Alltagsorganisation. Wer stabile nachbarliche Kontakte hat, ist sozial integriert. Am Anfang einer Beziehung steht die bloße freundliche Duldung des Nächsten. Auch sie braucht eine Initiative, das freundliche „Hallo, wir sind die Neuen“, das vielerorts aus der Mode gekommen ist
Zur Frage nach dem Stand der nachbarschaftlichen Beziehungen liegen Umfragen vor. Denen zufolge haben knapp die Hälfte der repräsentativ Befragten nach ihren Angaben enge Kontakte zu Nachbarinnen und Nachbarn. Nimmt man diejenigen hinzu, die von einem ein-geschränkten Kontakt zu Nachbarn berichten, so sind vier von zehn Menschen ohne Kontakt zu ihren Nachbarn.
Hat sich die Distanz vergrößert, wie vermutet wird? Einzelne Beobachtungen scheinen die Vermutung zu bestätigen. Wenn einem früher beim Kochen etwas fehlte, ging man zum Nachbarn und lieh sich das. Man hatte keine Hemmungen. Der Nachbar auch nicht. Es war ein Geben und Nehmen. Und heute? Innerhalb der Nachbarschaft geht man nicht mehr einfach vorbei und klingelt. Man würde vorher anrufen, wenn überhaupt. Wahrscheinlich würde man gar nicht hingehen: weil man sich nicht kennt, weil man denkt, was könnte der Andere denken. Die technische Entwicklung hat die Distanz nicht verringert, sondern vergrößert. Auch die ausgedehnteren Ladenöffnungszeiten machen Ausleihaktionen von Milch, Eiern und Brot suspekt.
Ein schönes Beispiel der Vertrauensbildung beschreibt der Journalist Sebastian Kempkes in der Wochenzeitung Die Zeit . Er ist neu in ein Haus gezogen. Die Wohnung wurde dem fünfstöckigen Bau aufgesetzt und der Autor fragt sich, jung und feierfreudig wie er zusam-men mit seinem Freund ist, ob ihn die Mietpartei unter ihm nicht eigentlich hassen müsste. Es ist ein altes Ehepaar, das schon seit Jahrzehnten im Haus wohnt. Er nimmt seinen Mut zusammen und besucht das Paar. Frau Otto sagt: “Nachbarschaft gibt‘s hier doch gar nicht mehr. Fängt ja schon damit an, dass einen keiner mehr grüßt!“ Einige Wochen später fragt der Autor nach einer weiteren lauten Feier, ob dies für das alte Ehepaar sehr störend war. Darauf sagt Herr Otto: „Ach, nicht der Rede wert, wir sind ja jetzt Nachbarn.“
Bedarf und Bedürfnis zum Ausbau nachbarlicher Bindungen sind also vorhanden, die Furcht, sich etwas dabei zu vergeben, ist aber ein Hemmnis.
Hier setzen digitale Angebote an. Der größte Anbieter in Deutschland ist seit Gründung 2015 nebenan.de mit – nach Eigeninformation – 1,5 Millionen Nutzer (Stand August 2020). Diese sind auf überschaubare Quartiere aufgeteilt und melden sich mit Klarnamen an. Beides sichert, wie ich aus eigener Erfahrung weiß, manierlichen Umgang miteinander.
Man mag es für ein Paradox halten, aber die Digitalisierung, die mit dazu führt, nachbarschaftlichen Umgang auf Distanz zu halten, schafft über eine Plattform wie nebenan.de, Nähe und erleichtert insbesondere jüngeren, die neu in ein Quartier oder in eine Stadt kommen, Anschluss, so auch eine ganze Reihe von Reportagen. Insbesondere klappen Tauschgeschäfte, Suchanzeigen, aber auch Warnungen („Bei uns wurde eingebrochen“). Das Ziel der Initiatoren, über die Einbeziehung von Kommunen, so Bürgeramt, Polizei, Feuerwehr etc., zu einem zentralen Informations-Medium und auch zu einem analogen Begeg-nungsmittel im Nahbereich zu werden und die Finanzierung durch lokale Informationsan-zeigen zu sichern, ist freilich flächendeckend (noch) nicht erreicht.
Es ist eine Erfahrung der Pandemie, dass uns insbesondere die beiläufigen Begegnungen fehlen . Der nette Kellner in unserem Lieblingsrestaurant, der junge Mann im Sportcenter, die Frau an der Kasse des Schwimmbades, die immer ihr Buch weglegt und kurz auflächelt, wenn man ihr den Dauerausweis vorlegt. Enttäuscht war ich, als die gewohnte Buchhändlerin nicht da war, als dieses Geschäft mal kurz öffnen konnte. Ihre Vertreterin scheuchte mich mit einer Handbewegung aus dem Laden, weil schon drei Kunden drin waren. Beim marokkanischen Frisör zahlte sich aus, dass ich ihm mal geholfen hatte, einen Kindergartenplatz, der seinem Sohn eigentlich zustand, auch zu bekommen. Das Behördendeutsch hatte er nicht verstanden und die unberechtigte Absage hingenommen. Das alles sind Menschen, deren Namen wir oft nicht kennen, deren Gesichter aber schon, deren Freundlichkeit im Austausch mit unserer Freundlichkeit uns das Leben so angenehm macht.
Der Sehnsucht nach Nähe steht der Wunsch vieler Menschen gegenüber, Nachbarn auf Distanz zu halten. Verena Lueken lässt in ihrem Roman „Anderswo“ ihre Protagonistin sagen: „Ihre Nachbarn hatte sie noch nie gesehen oder gehört, was sie vermuten ließ, sie lebten so wie sie. Vorübergehend hier oder dort. Ihr gefiel der Gedanke. So fühlte sie sich nicht allein, blieb aber unbehelligt.“
Eine Zwischenbilanz
informelle Nachbarschaftshilfe ist wichtig. Sie ist Ausgangspunkt zu allem. Warum sie bei gleichen sozialen Lagen in der einen Straße klappt und in der nächsten nicht, ist unklar. Es liegt wohl an einigen wenigen Aktiven, die den anderen das Mitmachen erleichtern. Digitale Angebote, die mit Nachbarschaften und Klarnamen arbeiten, können Türen öffnen. Aber dennoch: Es gibt zwar einerseits den Wunsch nach guten Beziehungen in die Nachbarschaft, gleichwohl aber andererseits auch den Wunsch nach Distanz. Der dritte Weg zwischen Stadt und Dorf bleibt in vielen Fällen ein frommer Wunsch. Ohne strukturelle Unterstützung, die ihrerseits einen langen Atem braucht, ändert sich nichts grundsätzlich, das zeigen die Erfahrungen bei der Übertragung des Community Organizing Konzepts aus den USA auf Deutschland. An dieser Unterstützung fehlt es sowohl durch den Staat als auch durch die Wirtschaft.
Wie aber sehen nun die Chancen zum Aufbau formalisierter Nachbarschaftshilfe aus?
Kein Erkenntnis, sondern ein Umsetzungsproblem
Was die nachhaltige Stärkung von Innovationspotentialen der Gesellschaftsgestaltung betrifft, haben wir kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem. Schon Jürgen Habermas hat 1985 geschrieben: „Moderne Gesellschaften verfügen über Ressourcen, aus denen sie ihren Bedarf an Steuerungsleistungen befriedigen können: Geld, Macht und Solidarität. Deren Einflusssphären müssten in eine neue Balance gebracht werden. Damit will ich sagen: die sozialintegrative Gewalt der Solidarität müsste sich gegen die „Gewalten“ der beiden anderen Steuerungsressourcen, Geld und administrative Macht, behaupten können“.
Auch andere Experten haben 2015 zu Protokoll gegeben:
„Gerade angesichts der demografischen Herausforderungen dämmert es immer mehr Akt-euren der Stadtentwicklung, dass gesellschaftliche Ziele nicht allein durch Delegation an die Politik und die politisch-administrativen Akteure erreicht werden können. Natürlich bleibt die öffentliche Hand besonders für den Abbau sozialräumlicher Benachteiligung ver-antwortlich. Es geht aber um mehr: Es geht um die Stärkung der Selbstorganisation in überschaubaren Lebensräumen und darum, wie man sie in funktionierende Nachbarschaf-ten verwandelt. Das ist weit mehr und komplizierter als Verwaltung und Planung – damit wird soziale Quartiersentwicklung zu einer Gemeinschaftsaufgabe aller drei Sektoren: Alle Ressourcen aus der Verwaltung/Politik, der Wirtschaft und der Zivilgesellschaft müssen besser als bisher identifiziert, zu einem gemeinsamen Handeln ermutigt und dauerhaft da-bei unterstützt werden, gemeinsame Ziele zu erreichen“.
Auf Gemeindeebene sieht es in diesem Sinne traurig aus: „In den meisten Kommunen ist die Förderung des bürgerschaftlichen Engagements gut gemeintes Stückwerk. Es gibt zwar Anlauf- und Beratungsstellen für Engagierte, aber viel zu selten eine Engagementstrategie aus einem Guss, die alle Kräfte vor Ort bündelt.“
Eine fruchtbare intersektorale Zusammenarbeit setzt eine gleichberechtigte Partnerschaft zwischen Politik/Verwaltung, Wirtschaft und Zivilgesellschaft voraus. Davon sind wir weit entfernt: Die kommunale (und nicht nur diese!) Politik und Verwaltung leitet aus ihrer politischen Legitimation fälschlich eine Alleinzuständigkeit für die Daseinsvorsorge ab. Dabei wird immer deutlicher: Viele Kommunen sind mit der Vielfalt der an sie delegierten Aufgaben strukturell überfordert und vielfach auch finanziell kaum mehr handlungsfähig. Das gilt für weite Bereiche: Bildung, Integration, Pflege und Betreuung alter Menschen, Mobilität – nur um einige zu nennen. Das gilt in verstärktem Ausmaß für sog. „freiwillige Aufgaben“, die von vielen Gemeinden in Finanznot gar nicht mehr wahrgenommen werden dürfen, selbst wenn damit erhebliche Folgeschäden zu vermeiden wären
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Unternehmen und zivilgesellschaftliche Organisationen sind auf ein Mindestmaß an Lebensqualität an ihren jeweiligen Standorten angewiesen und daher „natürliche“ Verbündete einer aktiven und an Selbst- und Mitverantwortung interessierten Bürgerschaft. Sie sind aber schwer zu einer gemeinsamen Entwicklungsstrategie zu bewegen, weil jeder ergänzend zu der meist mangelhaften Zielerreichung der Kommunalpolitik eigene gemeinnützige Ziele verfolgt – zumeist ohne nachhaltige Strategie: „Die seit Jahrzehnten praktizierten Modellprogramme sind viel zu unflexibel. Sie hinterlassen allzu häufig Projektruinen und keine nachhaltigen Lösungen. Dies lief immer nach dem gleichen Muster: Man setzte drei Jahre lang auf einen bestimmten Einrichtungstyp oder eine Organisationsform, danach wurde die „nächste Sau“ durchs Dorf getrieben. So ist ein Flickenteppich aus chronisch unterfinanzierten, sich teilweise sogar gegenseitig konkurrierenden Einrichtungen entstanden.“
In der Praxis zeigt sich, dass der dafür notwendige Paradigmenwechsel nicht ganz so einfach zu erreichen ist: „Prozessdenken und das Management ergebnisoffener Prozesse sind bisher im Engagementbereich wenig geübt. Wie ein Projektantrag aussehen muss, weiß die Szene, aber wie legt man Ziele und einen Arbeitsplan für einen Prozess fest? Und wie kann man Erfolg messen, wenn gar kein Projektergebnis angestrebt wird, sondern die Prozess-qualität analysiert werden muss, also etwa die Zusammenarbeit zwischen allen Partnern in der beteiligten Kommune?“
Das Beispiel Kronach
Soweit zur Beschreibung der Ausgangslage. Um nun ganz praktisch zu verdeutlichen, welche bürgerschaftlichen Potentiale auch in demografisch durch Alterung und Abwanderung bedrohten Gebieten oder Kleinstädten wie zum Beispiel in Oberfranken bestehen, hier die Beschreibung der Seniorengemeinschaft Kronach Stadt und Land e.V.
In den 10 Jahren seit der Gründung erfolgten 1.400 Mitgliederaufnahmen. 27.901 Einsätze bei insgesamt 57.349 Arbeitsstunden wurden geleistet. Gegen den anfänglichen Widerstand der Wohlfahrtsverbände und ohne finanzielle Förderung durch die Kommune, aber mit einer dreijährigen Anschubförderung durch LEADER (Entwicklung ländlicher Regionen), die Ober-frankenstiftung, das bayerische Sozialministerium und den Generali Zukunftsfonds. hat sich die Seniorengemeinschaft Kronach zu einer der größten Seniorengenossenschaften in Deutschland entwickelt, sowohl was die Mitgliederzahl als auch was die Anzahl der er-brachten Dienstleistungen für die Mitglieder betrifft. Damit ist sie zu einem der wesentli-chen Akteure der Daseinsvorsorge im Landkreis Kronach geworden. Und obwohl der Verein diese Bedeutung erreicht hat, wurde er bei der partizipativen Erstellung des in Bayern obli-gatorischen „seniorenpolitischen Gesamtkonzepts“ übergangen. Zu mehr als einer Ehren-nadel des Landkreises für die Gründerin und Vorsitzende reicht die „Würdigung“ dieses ge-waltigen Beitrags zum Gemeinwohl nicht. Ein Trauerspiel, aber auch ein angemessenes Abbild der gegenwärtigen Situation.
Die Eigenmittel des Vereins sind leider – wie bei der Mehrheit der zivilgesellschaftlichen Organisationen – nicht dauerhaft gesichert. Ein Teil hängt unmittelbar ab von den Mit-gliedsbeiträgen ab, ein weiterer Teil der Einnahmen erzielt der Verein aus den Gebühren, die Leistungsnehmer für die Hilfsleistungen erbringen. Diese Helferpauschale beträgt 8,-€/Std., wovon der Verein € 2,- für die Finanzierung seiner Arbeit verwendet. Die Freiwilli-gen dürfen im Rahmen der Übungsleiterpauschale mit ihrem Anteil an den „Honoraren“ (€ 6,- /Std.) bis zum gesetzlich zulässigen Höchstbetrag von € 3.000 p.a. steuerfrei ein eher kleines Zusatzeinkommen erzielen, was in vielen Fällen bei niedriger Rente als eine zusätzliche Motivation zum Einsatz wirkt. Der psychologische Vorteil diese Helferpauschale: Es gibt keine entwürdigende „Bittstellersituation“ und die Hilfe ist so leichter annehmbar.
Der immer noch bestehende Fehlbedarf an Einnahmen wurde bisher durch Spenden und etliche Preisgelder ergänzt (Marie-Simon-Pflegepreis, Deutsche Vernetzungsstelle LEA-DER, Theo Wormland-Stiftung, Innovationspreis „Zu Hause daheim“). Leider gab es nur sehr vereinzelte Unternehmensspenden und gar keine Förderung durch die Kommune. Der Ver-ein legte vor ein paar Jahren eine durch den Landkreis mit Fördermitteln finanzierte Mach-barkeitsstudie für ein weitgehend selbstverwaltetes Begegnungszentrum vor. Ergebnis: Ohne eine überschaubare jährliche Mitfinanzierung durch Stadt und Landkreis war ein wirtschaftlicher Geschäftsbetrieb trotz erheblicher Unterstützung durch Freiwillige nicht kos-tendeckend zu gewährleisten war. Und die Gemeinde konnte keine geeignete Immobilie bereitstellen. Der Stadtrat hatte seinerzeit einstimmig eine Unterstützung dieser Idee befürwortet, die Vereinsmitglieder waren bereit, für die Gründung einer Genossenschaft als Träger und Betreiber € 70.000 Euro an Genossenschaftsanteilen bereitzustellen – geschehen aber ist fast nichts. Ende der Vorstellung.
Die Seniorengemeinschaft Kronach hat für sehr viele Menschen das Altern im Landkreis Kronach erleichtert und verschönert – und damit zum gesellschaftlichen Zusammenhalt beigetragen. Zahllose schöne Bekanntschaften, Freundschaften, ja sogar Lebenspartner-schaften sind während der vergangenen zehn Jahre entstanden. Vor allem auch viele alleinstehende Menschen schlossen sich dem Verein an, um ihre Zeit sinnvoll mit Gleichge-sinnten verbringen zu können. Darüber hinaus bietet der Verein eine vierte Säule der Al-tersvorsorge an. Die Leistungserbringer können Ihren Teil des „Honorars“ auf einem Treu-handkonto des Vereins für eine eventuelle eigene Hilfsbedürftigkeit im höheren Alter si-chern.
Der Verein schließt alle professionellen Dienstleistungen bei seiner Art der Nachbar-schaftshilfe aus – es soll auf keinen Fall eine Konkurrenz zum Sozialversicherungs-, Kran-kenversicherungs- und Pflegeversicherungssystem entstehen. Die Vielfalt der Hilfsarten ist groß: Da gibt es zum Beispiel eine Helferin, die über 5 Jahre lang eine Familie bei der Be-treuung der Großeltern unterstützte, so dass diese ihren Lebensabend im gewohnten häus-lichen Umfeld verbringen konnten. Oder das Paar, dass den kleinen Hund eines älteren Ehepaares versorgt, damit sie ihn trotz eigener Gebrechlichkeit nicht weggeben müssen. Da ist ein Helfer, der bis zur Abholung durch die Tagespflege bei einem älteren Herrn verweilte und ihn auch wieder zu Hause empfing, bis die Kinder von der Arbeit zurückkamen. Im Zu-sammenspiel mit dem ambulanten Pflegedienst, der Tagespflege und dem Helfer der Seniorengemeinschaft wurde eine Betreuung zu Hause überhaupt erst möglich. Dadurch wird ein längeres Verbleiben in der eigenen Häuslichkeit ermöglicht und das meist ungewollte Abschieben in eine Heimunterbringung vermieden. Das ist auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten eine erhebliche Entlastung der öffentlichen Hand, nicht nur eine signifikante Erhöhung der Lebensqualität im Alter. Am Wochenende kann eine Tochter mit der Betreuung der Eltern durch ein Mitglied entlastet werden, so dass diese einige Stunden beruhigt das Haus verlassen kann und die Eltern in sicherer Obhut weiß. Für viele ältere Menschen ist ihr Garten ihre kleine Oase, die sie weiterhin gerne gepflegt haben wollen, es alleine aber körperlich nicht mehr bewältigen können. Egal ob Rasen mähen, Hecke schneiden, Wege kehren oder Brennholz schlichten – Allroundtalente sind gefragt und sehr beliebt und auf dem Markt entweder gar nicht verfügbar oder nicht zu bezahlen. Gerade in der Herbstzeit sind auch die jüngsten Mitglieder mit Laub rechen oder Unkraut jäten beschäftigt. Oftmals schon haben sich auch Kontakte zwischen Schülern und Senioren dauerhaft gefestigt, so dass man dann auch Ansprechpartner bei Problemen etwa mit der Bedienung des Handys oder des Computers hat. Fällt die Handhabung des Staubsaugers zunehmend körperlich schwerer oder das Fenster putzen, so sind auch hier fleißige Mitglieder zur Stelle; selbstverständlich unter Einhaltung der aktuellen vorgeschriebenen Verhaltensregeln. Viele weit entfernt wohnende Kinder schätzen die unkomplizierte, nachbarschaftliche Hilfe und versichern, dass Sie sehr beruhigt sind zu wissen, dass sie jederzeit einen Ansprechpartner vor Ort haben. Denn wer jetzt mit anpackt, hat auch ein Anrecht, später selbst von anderen Mitgliedern Hilfe erwarten zu können.
Durch das Erreichen der Mindestgröße ist auch die Nachhaltigkeit und Zuverlässigkeit die-ser Art von Nachbarschaftshilfe so weit wie möglich gesichert, bleibt aber immer auch eine tägliche Herausforderung.
Fazit:
Eine wirklich nachhaltige Quartiers- und Stadtentwicklung muss ganz anders aufgesetzt werden als bisher: Nicht als Verwaltungsakt aufsetzen und durchziehen, sondern in einem alle Akteure aus den Sektoren Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Zivilgesellschaft umfas-senden ergebnisoffenen Aushandlungsprozess ein Konzept erstellen für Gemeinwesenar-beit, in der jeder seine Rolle einnehmen, ausfüllen und daran reifen kann. Gesellschaftlich verantwortliche Unternehmen könnten hier eine wesentliche Rolle im Sinne der corporate cvitizenship übernehmen und damit die Lebensqualität an ihrem Standort entscheidend und gemeinsam mit anderen Akteuren mitgestalten. Das erfordert allerdings mehr als ein ein-maliges Engagement – wer wirklich wirksam werden will, muss eine gewisse Bereitschaft zur Kontinuität mitbringen.
Diese auch von Rolf Heinze geforderte „strategische Linie der Gesellschaftsgestaltung“ zielt auf die Selbstorganisationskräfte der Subsysteme und setzt auf eine Umsteuerung mit be-sonderem Blick auf zivilgesellschaftliche Organisationsformen, die nicht nur die Basis sozi-aler Infrastruktur repräsentieren, sondern in ihren Non-Profit-Organisationen derzeit etwa 3,7 Millionen Beschäftigte haben.
Er zitiert dafür auch Dritte: „Dort, wo die Zwanghaftigkeit von Macht, die kalte Vertragsför-migkeit des Marktes, die Gefühlssteigerung der Liebe, die gütige Herabneigung einseitigen Helfens nicht hingelangen oder nicht mehr akzeptiert werden und ihre Verbindlichkeit ver-lieren, findet Solidarität ihren Ort, als eine Binde- und Regelungskraft eigener Art: gefühl-voller als Verträge, aber nüchterner als Liebe; nicht in uneigennütziger Caritas sich verströmend, sondern Gegenseitigkeit des Beistandes zumindest für eine unbestimmte Zeit annehmend; beseelt vom Gedanken einer irgendwie verstandenen Gleichheit zwischen Ge-bern und Empfängern, trotz Differenzen zwischen ihnen und ungleicher Notlage; aus freien Stücken zustande gekommen und wieder auflösbar“.
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Loring Sittler, Berater gemeinnütziger Organisationen für den gesellschaftlichen Wandel; von 2008 bis 2016 verantwortlich für den Generali Zukunftsfonds, mehr: https://loringsittler.de/ Kontakt:loring.sittler@web.de
Dr. Henning von Vieregge M.A., Publizist und Lehrbeauftragter, Politologe, Schwerpkt: Engagement, Zivilgesell-schaft, Altern, zuvor Verbandsmanager, mehr: www.vonvieregge.de Kontakt: henningvonvieregge@gmail.com