Die vergebenen Chancen des Kirchentags

06 Jun
6. Juni 2015

Brief 96/ Juni 2015

Guten Tag,

auf dem   wieder interessanten Kirchentag in Stuttgart (4.-7. Juni) spielte das Thema Zivilgesellschaft im Verhältnis zu Staat und Wirtschaft keine zentrale Rolle. Zu diesem zentralen Zukunftsthema versagt der Kirchentag als Seismograph. Dabei arbeiten in der Engagementpraxis viele kirchlich gebundene und ungebundene Menschen an den Schnittstellen zwischen Kirche und Zivilgesellschaft.  Sie sind  Beleg für die Notwendigkeit einer ordnenden und gleichzeitig weiter aktivierenden  Debatte. Der Wettbewerb um engagementwillige Bürger nimmt zu. Die Repräsentanten des Staates betonen, dass wachsende Herausforderungen (Flüchtlinge, demografischer Wandel etc.) ohne Erhalt und Ausbau bürgerschaftlichen Engagements überhaupt nicht zu Chancen werden können. Ohne dieses Engagement wären aus den Herausforderungen schon längst drängende, wenn nicht unlösbare Probleme geworden.

Als Ausnahme von der weitgehenden Nichtbeachtung kam bürgerschaftliches Engagement  im Zentrum Älterwerden vor. Das könnte damit zu tun haben, dass die  Generation der fitten Alten bei diesem Thema besonders aktiv ist und noch aktiver sein könnte, denn schließlich haben sie reichlich Zeit, Geld und Kompetenz. Die vorbereitende Arbeitsgruppe (Leitung: Jens Peter Kruse) sorgte dafür, dass die maßgebliche Akteure der im Abschluss befindlichen Alten- und Engagementberichte der Bundesregierung frühzeitig eingebunden wurden. Noch spannender wäre der Schulterschluss mit den Aktiven des Zentrum Gemeinde gewesen, aber die Reformer innerhalb der Kirche waren wie bei früheren Kirchentagen wieder an den äußeren Rand der Kirchentagsorte verbannt worden, dieses Mal nach Zuffenhausen.

Addiert man beide zentralen Fragestellungen der Zentren Älterwerden und Gemeinde aus Kirchensicht , stellt sich die verbindende Frage: Offener zur Gesellschaft und verwurzelter  im Glauben, wie soll das gehen?

Für den katholischen Priester und Autor Christian Hennecke  (Hildesheim), auf dem Kirchentag mehrfach aktiv, ist die Sache klar: „Da wo diese beiden Akzente, dieses Dienen in der Welt, das’Mit-den-Menschen-Sein‘ und das ‚Mit-Christus-Sein‘, sich ereignen, da, glaube ich, haben wir große Chancen.“ Hoffen wir, dass dieser Aussage auf den kommenden Kirchentagen, den katholischen und den evangelischen, und im Lutherjahr 2017 mit Ernsthaftigkeit nachgespürt wird, theoretisch und empirisch.

Mit besten Grüßen

Henning v. Vieregge

Nachtrag: Der SPIEGEL (Nr.24/2015, S.40 f) berichtet über den Kirchentag. Zentrale Aussage: Es sei „unklar,ob die Grünen die Protestanten gekapert haben – oder die Protestanten einen wesentlichen Teil der Grünen…Die Frage ist, ob es Kirche auf Dauer gut bekommt, wenn sie sich in eine Vorfeldorganisation der Grünen verwandelt„.  Das ist SPIEGEL-Argumentation: Was eben noch unklar war, ist einige Sätze später klar und schon wird aus Differenziertheit floppige Einseitigkeit.  Kritikwürdigkeit an der engen Beziehung Kirchentag-Kirche zu Grünen  wird weiter dadurch suggeriert, dass an diezweite Aussage unmittelbar die Austrittszahlen gehängt werden, als ob es eine kausale Beziehung zwischen (angeblicher) Grünenabhängigkeit und tatsächlicher Kirchenmitgliederentwicklung gäbe. Das ist natürlich Unsinn. Richtig an dem Beitrag scheint mir zu sein, dass die Grünen bei den jetzt die Hebel der Macht haltenden Babyboomern kultureller Mainstream sind . Unbestrittene Dominanzfigur des Mainstreams ist Margot Käßmann. Ihre Einlassungen, auch die Predigten, so in der Bibelarbeit beim Kirchentag, spiegeln blanken Kulturpopulismus mit vorhersagbaren Ausfällen: pro Griechenland, contra Militär, Banken, Machtträgern der Wirtschaft etc. Dazu wurde ein süßes Enkelkind hinter das Rednerpult platziert und der Saal bebte vor Begeisterung. Der Traum von einer anspruchsvollen, weil sich den Widersprüchen und der Komplexität modernen Lebens ausliefernden Kirche, der unter Wolfgang Huber Realität zu werden schien, ist nun wieder ausgeträumt angesichts der Popularität einer Führungsfigur, die sich von jeglicher zügelnder Verantwortung durch ihren Rücktritt vom Bischofs- und EKD-Amt befreit hat.  Das Vorurteil gegen führende Vertreter des Protestantismus, sie sähen  in Leistungsträgern der Gesellschaft nur die Kühe, die zu melken aber nicht zu füttern sind, erlebt sein Revival. Polemisch zugespitzt: Am besten wären alle in der Situation von Pfarrern: das Geld kommt von der Steuer und alle Beschäftigten im Beamtenglück.

In der Rückschau zum Kirchentag merkt Loring Sittler, Generali Zukunftsfonds und in der Vorbereitungsgruppe Älterwerden, zweierlei an:

1. Für das auch von der Presse so wahrgenommene „Schaulaufen der Politprominenz“ müsste sich der Kirchentag zu schade sein. Die Annahme, dass nur die Promis die Gäste anziehen, kann als widerlegt gelten. Die Leute sind an Themen interessiert.

2. Es muss allen Akteuren wesentlich deutlicher als bisher der geistliche Bezug als Aufgabe vermittelt werden – und die konkrete Nachfrage bei den Veranstaltungen, was das Erörterte für die konkrete Gemeindearbeit und/oder den Einzelnen zur Folge hat.

Beide Bemerkungen teile ich

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