Wie sichert Rotary Zusammenhalt und Relevanz?
Blog 257/August 2021
Guten Tag,
mich hat in der Tat die Frage in der Überschrift „Wie sichert Rotary Zusammenhalt und Relevanz?“ Von Anbeginn meines stärkeren Engagements für Rotary interessiert, vorher galt die gleiche Frage der evangelischen Kirche. So kann denn meines Erachtens der nachfolgende Text Rotary spezifisch und mit gewissen Abstrichen auch für andere Organisationen der Zivilgesellschaft geltend gelesen werden. Er ist bei Rotary online erschienen.
Mit herzlichen Grüßen
Henning v. Vieregge
Ego zügeln, aber sichtbar sein: Was Rotary zusammenhält und relevant macht.
Wodurch wirkt man? Für Theodor Fontane war die Antwort eindeutig: Wenn seine Eltern sich darin versuchten, „mit den herkömmlichen pädagogischen Mitteln einzugreifen, (wurde) unser normaler Nicht – Erziehungsprozess gestört, teils nutzlos, teils geradezu schädigend.“ Entscheidend sei gewesen, wie die Eltern sind, „wie sie durch ihr bloßes Dasein auf uns wirken“.
Bei Rotary gibt es ein Agieren in Zurückhaltung, weniger, weil es aufgeschrieben ist (es gibt Benimm-Regeln), sondern vielmehr, weil es immer wieder vorgelebt wird. Das lässt sich nach innen wie nach außen beobachten. Nach innen verdeutlicht sich diese Haltung darin, dass ganz im Gegenteil zu den Gründern innerhalb von Rotary direkte Geschäftsanbahnungen verpönt sind, was nicht heißt, dass sie nicht vorkommen. Aber dann ergeben sie sich, weil ein Netzwerk ein Nützwerk ist, aber nicht, weil man sich dazu verpflichtet fühlt. Ähnliches gilt für die Vertretung von Glaubensauffassungen. Es herrscht der Comment der Zurückhaltung. Das Miteinander wird, das zeigen die Selbstcharakteristika der Clubs unzweifelhaft, vorrangig als freundschaftlich beschrieben. Trotzdem oder deswegen?
Lesen Sie sich bitte mal durch, wie sich ein Club in Jerusalem 1931 selbst beschrieben hat und nehmen wir an, die Selbstbeschreibung entsprach (mindestens weitgehend) der Realität. Dann könnten wir uns fragen, was das Geheimnis eines solchen Miteinanders ist. Und zweitens, warum uns ein Clubleben in solcher ideologischer Divergenz heute nicht mehr möglich scheint:
„Wir haben ein buntes Gemisch in unserem Club, etwa zehn Nationalitäten, fünf verschiedene Sprachen. Rotary liefert uns den gemeinsamen Rahmen, ungeachtet aller Unterschiede in Rasse, Religion und Sprache. Wir haben überzeugte Zionisten und ebenso überzeugte anti – zionistische Araber im Club, Briten, Amerikaner, Deutsche. Sie alle begegnen sich als Rotarier freundschaftlich, obwohl sie sich im Übrigen bei vielen Themen deutlich unterscheiden.“
In früheren Jahren konnten Rotarier in einem Club über Jahre verbunden sein und sind gleichwohl beim „Sie“ und „rotarischen Freund“ geblieben. Erst durch die Globalisierung und den damit verbundenen Siegeszug des Englischen ist das „Du“ gesellschaftlich derart beherrschend geworden, dass es auch den Weg in die Rotary Clubs gefunden hat. Aber der Unterschied zwischen einem rotarischen Freund und einem Freund ist damit nicht aufgehoben. Was freilich nicht ausschließt, dass aus einem rotarischen Freund ein Freund wird, von denen man im Durchschnitt, das zeigen Befragungen, fünf oder sechs hat. Nicht mehr.
Die gleiche Zurückhaltung gilt in aller Regel nach außen. Hilfe ja, politische Einmischung nein. Als unser Distrikt aus guten Gründen, die hier nicht näher erläutert werden sollen, eine Petition an politische Instanzen in Berlin und Brüssel schickte, man möge alles tun, um eine weiteren Niederschlagung der Zivilgesellschaft in Belarus zu verhindern, spendeten die einen Rotarier Beifall („Endlich mal gesellschaftliches Engagement“), während andere prinzipielle Bedenken anmeldeten („Rotary soll nicht politisch agieren.“).
Weltpräsident Holger Knaack riet dazu, als Rotarier sich gesellschaftlich zu engagieren, als Rotary freilich sich zurückzuhalten. Ist diese Unterscheidung eine überzeugende Antwort auf die Frage, wann man im Club die Reißleine ziehen und sich von Mitgliedern trennen sollte, wenn diese nach Auffassung anderer Clubmitglieder sich ethisch zu angreifbar verhalten haben? Ist diese Unterscheidung eine überzeugende Antwort auf die Frage, wann man als Club, als Distrikt, als Deutscher Governorrat oder gar als Rotary International sich politisch engagieren sollte, vielleicht sogar Partei nehmen müsste, wie es Rotary International im ersten Weltkrieg beispielsweise mit Parteinahme für die Alliierten getan hat, gegenüber der nationalsozialistischen Herrschaft angesichts des drohenden Verbots der Clubs aber unterließ?
Es gibt keinen eindeutigen Königsweg. Aber ich glaube schon, dass in der DNA von Rotary ein gewisses Maß an Zurückhaltung, ja Enthaltsamkeit enthalten ist. Wer glaubt, ein solches Verhalten könne ja nicht schwierig sein, soll sich bitte nochmals das Jerusalem-Zitat durchlesen und sich fragen, ob er (oder sie) in einem solchen harten Meinungsmix freundschaftliches Wohlfühlen entwickeln könnte. Das Modewort heißt Ambiguitätstoleranz und deren Schwinden wird konstatiert und als Verlust an demokratischer Substanz beklagt: die Fähigkeit nämlich, ohne selber werte- und meinungslos zu sein, um des freundschaftlichen Umgangs willen sein Ego, das auf Unzweideutigkeit drängt, zu zügeln.
Zum besseren Verständnis dieses Gedankens hilft ein Zitat vom Gründungsvater von Rotary, Paul Harris (1868-1947), der sagte „Rotary ist der Ansicht, dass die Interessen der Gesellschaft einen Raum verlangen, in dem sich Menschen verschiedener Herkunft, Glauben und politischer Parteien in glücklicher Gemeinschaft treffen können und möchte diesen Raum zur Verfügung stellen.“
Atheistenplakat, gesehen in San Diego im Balboa-Park 2021, Foto v. Vieregge
Dieses Selbstverständnis von Rotary war in den Gründerjahren nach 1905 noch nicht präsent. Paul Harris, der eine feine Witterung für Probleme hatte, fand, dass Rotary sechs Jahre nach Gründung eine Neuausrichtung brauche, weg vom rein selbstbezogenen Agieren. Er lernte Arthur F. Sheldon (1868-1935) kennen, einen durchaus erfolgreichen Unternehmer, der sein Hobby, anderen Unternehmern zu erzählen wie sie erfolgreich sein könnten, mehr und mehr zum Beruf gemacht hatte. und er sah in Sheldon den geeigneten Verkünder dieser Umpositionierung. Beim zweiten Treffen aller nationalen Clubs in Portland, Oregon, 1911 wurde in Abwesenheit des Urhebers sein Referat vom langjährigen Generalsekretär von Rotary, Ches Perry, vorgetragen und der Satz „He Profits Most Who Serves Best“ soll Beifallsstürme ausgelöst haben. Zwei Zitate als Reaktion:“We simply had the cart before the horse.“ (Rufus Chapin) und „Caveat emptor“ (Möge der Käufer sich in acht nehmen) sei somit überwunden, rief ein anderer . Für uns heute ist es gar nicht einfach, die damalige Begeisterung nachzuempfinden.
Es ging um das Wort Service. Das kannte man eigentlich als Gottesdienst oder als Dienst am Vaterland. Sheldon übertrug es in die Arena der Ökonomie. Was bedeutet dies bei einem Autor, der Fachbücher unter dem Titel The Art of Selling oder The Science Of Succesfull Salesmanship publiziert hatte? Die Rotarier sollen nicht länger nur Geschäfte unter sich, sondern mit allen machen. Dabei sollen die die Kunst (oder gar Wissenschaft) erfolgreichen Verkaufens beherzigen. Sie sollen zurückhaltend agieren wie ein versierter Verkäufer, der nichts von sich offenbart, was eine Kluft zwischen ihm und seinem Kunden öffnen könnte Jeder Mensch ist ein potentieller Kunde. Agiere respektvoll und fair und halte dich in allem, was die entstehende Beziehung stören könnte, zurück. Das zahlt sich letzten Endes auch für dich aus.
Die Wirkung dieser Argumentation sollte nicht unterschätzt werden. Schließlich war (ist?) Rotary im Kern eine Gruppierung von Menschen aus der Wirtschaft. So wie auch der zweite Großethiker der Organisation, Herbert J.Taylor (1893-1973). Er hatte den Erfolg seiner Vier-Fragen-Probe bei der Rettung eines Unternehmens erprobt, als er den Mitarbeitern auftrug, sich in ihrem Verhalten miteinander und gegenüber Kunden und Lieferanten entlang der vier Fragen zu orientieren. Somit wurde die Service-Leitidee „Verhalten wie gegenüber Kunden“ in die DNA von Rotary eingebrannt, und zwar gleichermaßen für den Umgang innerhalb der Clubs als auch in ihren Außenaktivitäten, die sich im Laufe der Jahre zunehmend bis ausschließlich auf die zivilgesellschaftliche Arena orientierten. Auch hier soll derjenige, dem geholfen wird, davon überzeugt sein, dass es um seinen Nutzen geht.
Der Begriff Servicewüste – für Deutschland oft in Gebrauch – soll anzeigen, dass das Verständnis als Dienstleister mangelhaft ist. Man bekommt keine Hilfe, wenn man sie braucht. Bezogen auf den bisherigen Argumentationsgang gibt es aber noch ein zweites Füllung dieses Begriffs: ungezügeltes Ego im Umgang miteinander lässt Vertrauen miteinander nicht entstehen. Das Ergebnis ist ebenfalls verheerend.
Eine Organisation, in der weder das eine noch das andere Verhaltensmuster dominiert, ist im Inneren vor Entzweiung geschützt und kann nach außen durch sein Handeln – siehe Fontane – wirksam gegen Nationalismus, Rassismus und andere Ideologien sein. Ich finde es bemerkenswert, dass ethische Verhaltensvorschläge aus dem Felde der Wirtschaft besser in das Konzept einer offenen Gesellschaft passen als konkurrierende Vorstellungen, deren Wahrheitsobsessionen nahezu zwangsläufig die gute Absicht in böse Praxis umschlagen lassen.
Zugespitzt wurde dieser Ansatz in der noch einfacheren Formel „Service above self“, seit 1989 das Hauptmotto von Rotary. Es bedeutet nicht jeglicher Verzicht auf Eigeninteresse; das wäre entweder irreführend oder überfordernd.
Aber im Moment des Agierens soll das Eigeninteresse durch. Zurückhaltung, ja Enthaltsamkeit, gekennzeichnet sein. Das gilt innerhalb der Clubs und ist somit eine Voraussetzung für freundschaftlichen Umgang und es gilt für die Projektarbeit, die nur so in eine Entwicklungspartnerschaft münden kann, die beide beschenkt, den Nehmer und den Geber
Mehr Sichtbarkeit durch Brückenbau
Wer allerdings aus dieser Zurückhaltung, die sich auch gern mit dem Beiwort „vornehm“ schmückt, die Aufforderung zur öffentlichen Unsichtbarkeit versteht, sollte sich nochmals das Paul-Harris-Zitat am Anfang diesen Beitrags anschauen. Der Raum, den Rotary der Gesellschaft zur Verfügung stellen sollte, kann der interne, aber auch der öffentliche sein. Hier ist in Zeiten identitärer Argumentation von links und rechts ein wahrhaft großer Bedarf an Brückenbau, damit die klaffenden gesellschaftlichen Gegensätze nicht in feindlicher Unverbundenheit verbleiben. Rotary kann auf dem Hintergrund seiner Praxiserfahrungen und mit der Intelligenz und Führungsfähigkeit seiner Mitglieder der Offenen Gesellschaft Riesendienste erweisen, damit diese Gesellschaftsform zukunftsfähig bleibt. Und Relevanz und Attraktivität für neue Mitglieder unter Beweis stellen.. Also: Selbstlos im Agieren, aber keineswegs interessenlos.
Henning von Vieregge ist Publizist, iPDG in 1820. Der Text ist eine leicht überarbeitete Version aus dem gleichnamigen Beitrag in Henning von Vieregge/Reinhard Fröhlich/Hans-Werner Klein (Hrsg.), Clubleben im Stresstest, kostenlos bestellbar (kleine Spende für Nachhaltigkeitsprojekte erbeten) unter rotary.de/shop. Autoren sind neben den Herausgebern u.a. Holger Knaack, Rainer Hank, Gert Scobel, Volker Mosbrugger, Rupert Graf Strachwitz sowie fast vollständig die Governorcrew 20/21.