Was bringt die Diskussion um Heimat? -Ein Interview

11 Feb
11. Februar 2020

Blog 223, Februar 2020

Guten Tag,

„Heimat hat damit zu tun, der Zukunft zu vertrauen“-Unter diese Überschrift stellte die AZ ewin Interview von Stefan Schröder (Chefredakteuer Wiesbadener Tagblatt) mit mir. Es erschien in einer 80-seitigen (!) Beilage aller Zeitungen im VRM-Verlag (Mainz, Wiesbaden, Darmstadt, Worms usw.) unter der Überschrift „Heimat ist Zukunft“ als Sonderveröffentlichung am 31. Janaur 2020. Bitte lesen Sie:

Herr von Vieregge, warum lässt das Wort Heimat niemanden kalt?
In dem Wort steckt eine Unschärfe, die ganz viel Fantasie zulässt und ein Gefühl von Wärme. Das bringt einen zum Nachdenken. Wenn Wärme von Kälte abgelöst wird, scheint es ein Problem zu geben.

Haben Sie versucht, den Begriff zu definieren?
Ich habe ein bisschen herumdefiniert. Es hat etwas mit Ortsbezogenheit zu tun. Der zweite Part ist die Familie. Wo meine Familie ist, ist meine Heimat. Dann beginnt man zu differenzieren. Man kommt darauf, dass Musik, Kirche, Vereine und eine Fülle von anderen Dingen dazu führen, dass man sich irgendwo aufgehoben, angenommen und wohlfühlt.

Was ist mit Sprache?
Sie gehört dazu. Auch Dialekte. Anheimelnd ist dafür ein passender Begriff. Für jemanden, der in ein neues Land mit einer neuen Sprache geht, für den ist die Sprachbarriere ein besonderes Hindernis.
Kann man Heimat als Begriff überhaupt verallgemeinern? Heimat ist doch zuerst eine ganz persönliche, ja private Angelegenheit?
Gleichwohl gibt es Faktoren staatlichen Handelns und des Handelns von vielen Institutionen zusammengenommen, die dazu führen, dass ich mich da, wo ich bin, beheimatet fühle. Oder dass ich mich entheimatet fühle.

Haben Sie dafür ein Beispiel?
Die Deutschstämmigen in Rumänien wurden

nach dem Krieg nicht vertrieben. Obwohl ihnen einige Rechte zugesprochen wurden, behandelte man sie als Leute zweiter Klasse. Zahlreiche Schriftsteller, allen voran Hertha Müller, beschreiben einen Entheimatungsprozess. Sie waren nicht mehr zuhause, bevor sie ihr Land verlassen durften. Deshalb waren sie trotz aller Beschwichtigungen nicht mehr zu halten. Man könnte von einem „Cooling out“-Prozess sprechen, einem Abkühlungsprozess.
Ist Heimat als Abteilung eines Ministeriums angebracht?
In Großbritannien hat man einer Staatssekretärin das Ressort für Einsamkeit anvertraut, eigentlich gegen Einsamkeit. Das hätte man auch so in Deutschland machen können. Mit dem Ziel: Wir kümmern uns darum, dass Menschen nicht vereinsamen. Das hätte ähnliche Auswirkungen wie ein Heimatministerium.

Wie erklären Sie sich, dass Heimat selten ohne einen Gegenpol auskommt? Das war bei den Vertriebenen so oder als Anfang des 19. Jahrhunderts Schriftsteller auf Reisen von der Heimat schwärmten, die sie verlassen hatten.
Das ist so. Es gibt eine gefährliche Seite dieser Diskussion. Dass nämlich diese Verlustgefühle politisch funktionalisiert werden. In diesem Fall wird so getan, als ob Heimat ein geschlossener Begriff der Identität sei. Deswegen nennt sich eine rechtsradikale Gruppe „Die Identitären“. Die haben eine falsche Deutung des Begriffs Identität, weil sie meinen, man könne das ein für alle Mal definieren. Die Veränderung, die Teil der Identität bei jedem einzelnen ist, wird unterschlagen.

Welche Gefahr sehen Sie darin?
Das Ganze wird skandalisiert und führt dazu, dass neu Hinzukommende nicht Heimat finden, sondern Verunsicherung erleben.
Wenn Heimat als Kampfbegriff verwendet wird, wird sie dann als Begriff nicht missbraucht?
Es gibt meines Erachtens zwei Gefahren. Einmal, wenn Heimat wie eine Wagenburg verstanden und jede Veränderung als eine Gefahr für diese so definierte Heimat gesehen wird. Das Andere ist genau das Gegenteil: Wenn ich den Menschen gegenüber bestreite, dass sie zurecht eine Sehnsucht nach Heimat oder nach Beheimatung haben und preise das Unbegrenzte, das total Offene, dann verunsichert das noch mehr und erleichtert den Leuten auf der anderen Seite das Geschäft.

Spielt das in Deutschland eine besondere Rolle?
Ich glaube, ja. Weil nach dem vielen Missbrauch, der mit dem Begriff in unserer Geschichte getrieben wurde, oft die Entscheidung fällt: Wir lassen das Heimatgefühl nicht zu, dann fehlt auch der Missbrauch.
Muss man etwas für seine Heimat tun?
Nicht nur ein Heimatminister soll sich rühren, weil Lebensverhältnisse erhalten werden sollen, damit es keine abgehängten Gegenden gibt. Wesentlich ist, dass jeder einzelne von uns an diesem Thema pausenlos arbeitet im Sinne eines pragmatischen Optimismus. Nach dem Motto ,Wir kriegen das hin‘.

Wie muss man sich das vorstellen?
Da gibt es das Dorf A und das Dorf B. Im Dorf A fühlen sich alle abgehängt, im Dorf B blüht es, und es entsteht ein Miteinander, junge Familien ziehen wieder hin. Es hängt oft an wenigen Menschen, die sich einsetzen und sich nicht beirren lassen. Das sind die echten Heimatminister.

Sie plädieren für mehr bürgerschaftliches Engagement gerade in Verbindung mit der Heimat. Warum?
Wenn Heimat etwas damit zu tun hat, dass ich der Zukunft vertraue und mich nicht nur heute wohlfühle, das kommt dem bürgerschaftlichen Engagement schon sehr nahe: etwas für die Gemeinschaft zu tun, was mir aber auf die Dauer selbst zugute kommt. Wenn ich Bedürftigen helfe, vom Rand der Gesellschaft in die Mitte zurückzufinden, hilft auch mir das.

Wie erklären Sie sich, dass das lokale Umfeld so in den Fokus gerückt ist?
Bei der Entdeckung des Quartiers, des Dorfes spielen zwei Dinge zusammen. Wir registrieren deutlich zunehmendes bürgerschaftliches Engagement, auch mehr Vereinsgründungen in Deutschland. Dabei stellen die Bürger den Anspruch, wirklich mitgestalten zu können. Ein wichtiges Buch heißt „Leben und Sterben, wo ich daheim bin“. Der Bürger will sich nicht nur auf die repräsentative Seite der Demokratie verlassen, sondern er will mitmachen.

Wie wirkt sich das lokalpolitisch aus?
Die Politik lernt gerade, dass das nicht gefährlich, sondern nützlich ist. Der Staat sieht den demografischen Wandel, sieht, dass Aufgaben auf ihn zukommen, die ihn überfordern, sieht, wie die Familien angesichts der Belastungen schwächeln. Das provoziert die Frage: Wie können wir in der Nachbarschaft etwas mobilisieren? Und wie können wir uns von dem, was wir jahrelang betrieben haben, nämlich die Zentralisierung, wieder abkehren und Quartiere zu lebendigen Biotopen machen?

Was heißt das fürs Bauen?
Wir haben es mit einem enormen Paradigmenwechsel zu tun. Denken Sie an Siedlungen, wo man heute zwar wohnen kann, aber nicht einkaufen, wo Kindergärten nicht eingeplant sind. Wo man Manager braucht, die ein Miteinander wieder anregen. Wir sprechen von einer Caring Community, von einer sorgenden Gemeinschaft, die sich in den Quartieren bildet und dafür sorgt, dass in einem neuen Mix von Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen ein Miteinander entsteht. Ein Wir, das mit dem alten, gepressten dörflichen Wir nichts zu tun hat, auch nichts mit der Einsamkeit des Ichs.

Menschen sagen heute sogar, dass sie sich im Netz – also im Internet – zu Hause fühlen. Ist das nicht ein Gegensatz?
Das kann ich verstehen. Es gibt gerade im Internet sehr interessante Angebote von Nachbarschaftsplattformen, die dafür plädieren, dass über sie wieder mehr real passiert. Weil wir uns manchmal schwertun, beim Nachbarn zu klingeln. Das geht einfacher über eine Internetgruppe.

Sie haben im Sommer mit Mainzer Prominenten und Unterstützern einen „Mainzer Appell“ formuliert, der sich intensiv mit der Zukunft der Stadt befasst hat. Man hat nicht mehr viel darüber gehört.
Wir wollten weder der Politik noch den Fachleuten etwas streitig machen. Daher hatten wir beschlossen, erstmal nicht an die Öffentlichkeit zu gehen. Wir wollten anregen, dass unser Anstoß aufgenommen wird. Wir stellen uns das als einen Prozess vor, der fortlaufend zu diskutieren ist. Wir werden uns halbjährlich treffen und absprechen, was passiert ist. Mit den drei wichtigsten Bürgermeisterkandidaten haben wir gesprochen. Nur einer ist es jetzt geworden. Und mit ihm wird das Gespräch fortgesetzt. Uns kommt es nicht darauf an, dass wir spektakulär wirken, sondern dass andere den Ball aufnehmen.

Was sind wichtige Hebel in einer Stadt, die man betätigen muss, um etwas zu bewegen?
Die Möblierung der Stadt ist sehr wichtig. Gute Beispiele wie Kopenhagen regen einen an. Dort finde ich an jeder Ecke eine Sitzbank, daneben einen Papierkorb, und davor läuft ein Radweg. Da habe ich schon mal drei Teile, die eine Stadt interessant machen und zum Verweilen einladen. Und man muss neben dem Zentrum einzelne Quartiere fördern, die in sich lebhaft sind.

Wie muss man sich das Fördern vorstellen?
Manchmal sind es einfache Dinge, die wirken. Ein OB-Kandidat in Mainz hat einen Nachtmarkt angeregt und mal probehalber veranstaltet, der dann auch zum Erfolg wurde. In den Tropen sind die Nachtmärkte der Hit. Bei uns sind die Marktzeiten so gelegt, dass Berufstätige nicht daran teilnehmen können – außer samstags. Das sind kleine Überlegungen, die aber wichtig sind.

Was braucht man?
Man darf keine Angst haben, auch mal im Eifer des Gefechts zu viel zu versprechen und den Mut besitzen, mal eine Straße für den Verkehr zu sperren wie in Frankfurt. Wir müssen mehr ausprobieren und danach entscheiden, wie wir weitermachen. Es gibt nämlich so ein Wohlgefühl, das keine Risiken mehr eingeht. Fastnachtsstädte sind davon nicht unbetroffen.

Das Gespräch führte Stefan Schröder.


Zur Person
Dr. Henning von Vieregge (Jahrgang 1946) ist promovierter Politik- und Sozialwissenschaftler. Nach seiner Karriere als Verbandsmanager, unter anderem als Hauptgeschäftsführer des Gesamtverbandes Kommunikationsagenturen GWA in Frankfurt, arbeitet von Vieregge freiberuflich als Autor und Schriftsteller sowie als Lehrbeauftragter in Mainz und Berlin. Er ist Botschafter der Nachbarschaftsplattform www.nebenan.de. Zu seinen veröffentlichten Büchern zählen „Wo Vertrauen ist, ist Heimat,.Auf dem Weg in eine engagierte Bürgergesellschaft“ (München 2018); „Der Ruhestand kommt später“ (Frankfurt 2012); „Neustart mit 60. Anstiftung zum dynamischen Ruhestand“ (2. Auflage 2018). Von Vieregge ist verheiratet, hat vier Kinder und lebt in Mainz.

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