Nicht alles über den Ost-West Leisten schlagen, Viel Unsinn zum Tag der Einheit, Städter dominieren den Diskurs

02 Okt
2. Oktober 2019

Blog 214/Oktober 2019
Guten Tag,
ich stelle in diesen meinen Blog selten Fremdtexte ein. Die Ausnahme in diesem Fall kann ich dreifach begründen. Erstens sind die medialen Scheinwerfer im Jubiläumsjahr der Wiedervereinigung auf die Ost-West-Beziehung gedreht mit der Folge, dass auch Themen, die in einen anderen Kontext gehören, jetzt unter Ost-West subsummiert werden. Die Vernachlässigung der Interessen der Landbewohner passiert eben nicht nur in der ehemaligen DDR. Wolf Schmidt, lange in Hamburg ansässig als Vorstandsmitglied der Körberstiftung, und dies ist der zweite Grund, vom Üblichen abzuweichen, ist ein passionierter Dorfbewohner in Mecklenburg geworden, auch ein kluger Vertreter von bürgerschaftlichem Engagement und dazu verbindet uns Freundschaft. Und drittens stammt meine mecklenburgische Familie vom Lande und immer, wenn wir dort sind, was wir gern sind, geht es in den Gesprächen auch um die unfassbare Arroganz der Stadtmenschen, die in Parteien und Medien den Takt abgeben und somit schwierige Lagen eher noch schwieriger machen anstatt Probleme mindestens zu mildern.

Wolf Schmidts Text ist dem „Landblog“ entnommen.

Kontakt: kontakt@dr-wolf-schmidt.de

Autor Dr. Wolf Schmidt ist Sprecher des Landesnetzes der Stiftungen in MV und leitet die „Initiative Neue Ländlichkeit” in der Mecklenburger AnStiftung. Autor von „Luxus Landleben – Neue Ländlichkeit am Beispiel Mecklenburgs“

Der Text:
Zum Einstieg ein Zitat einer prominenten Dorfbewohnerin vom vorigen Monat:
„Ich mag den Begriff ‚abgehängt‘ nicht, aber wenn du in einer Gegend wohnst, wo keine Infrastruktur mehr vorhanden ist – kein Arzt, keine Schule, kein Geschäft – , wo das staatliche Handeln einfach nicht mehr sichtbar ist, haben die Leute schon das Gefühl, dass die Politik an ihrem Leben und ihren Bedürfnissen total vorbeigeht. … Und dann kommen die Grünen mit Forderungen zu Elektrotretrollern oder Pappkaffeebechern – das kommt einem hier draußen total absurd vor. Denn hier fehlt es eigentlich an allem. Das ist kein ostdeutsches, sondern ein ländliches Problem.

Man müsste den Menschen glaubwürdig versprechen, dass sich die alltäglichen Lebensbedingungen massiv verbessern. Dafür müsste man richtig Geld lockermachen. Das finde ich in der Tat alternativlos. Man kann nicht über Diesel-Fahrverbote in Städten reden, wenn die Leute hier auf ihr Auto angewiesen sind, weil es keinen Nahverkehr gibt. So eine Parallelwelt können wir uns nicht erlauben, weil die Menschen sonst das Gefühl haben, nicht gesehen zu werden. … Die AFD plakatiert im Wahlkampf ‚Diesel retten!‘ Mehr brauchen die gar nicht. Wer auf dem Dorf würde dieser Forderung widersprechen? Diese Diskrepanz zwischen Stadt und Land gefährdet unseren gesellschaftlichen Frieden – und zwar für uns alle. Denn wenn es kracht, dann richtig!“
Juli Zeh, Autorin, brandenburgische Verfassungsrichterin und SPD-Mitglied im Interview mit „Focus“, 17.8. 2019

Juli Zeh umreisst eine Diskrepanz von Erfahrungs- und Denkwelten zwischen Stadt und Land. Dafür passt der Begriff „Diskurs“, der etwas anderes meint als bloß Diskussion oder Debatte. Diskurs bezeichnet hier im Sinne des französischen Soziologen Michel Foucaults eine quasi institutionalisierte gesellschaftliche Redeweise, die das Handeln der Menschen bestimmt. Dabei bilden sich Regeln heraus, was sagbar ist, was gesagt werden soll, was nicht gesagt werden darf und von wem es wann in welcher Form (z.B. als wissenschaftliche Aussage) gesagt werden darf. Der dominante Diskurs in Deutschland ist ein urbaner – urbaner Politik, urbaner Verwaltung, urbaner Medien, urbaner Experten. Das heißt nicht, dass alle in der Stadt so und alle auf dem Land anders ticken. In der Realität mischt sich manches. Außerdem: Jedes Dorf ist anders…

Wo zwischen Stadt und Land Ressentiments immer unversöhnlicher aufeinandertreffen, gilt es rationale Interessenkerne herauszuarbeiten und damit verhandelbar zu machen. Dabei hilft es, Diskurse in einigen Politikfeldern auf ihre Interessenlage zu durchleuchten.

Energiewende:
Der dominante Diskurs…

– zur Förderung des Bahnverkehrs hilft denen wenig, die keinen Bahnhof erreichen können, möglicherweise aber sogar unter dem Ausbau von Schnelltrassen leiden.

– gegen den Dieselmotor (und Benziner) ignoriert diejenigen, die auf absehbare Zeit auf diese Antriebe angewiesen sind (wegen Entfernungen, Kosten, fehlender Infrastruktur).

– zur Zurückdrängung des Pkws in den Großstädten (z.B. City-Maut, Wegfall von Parkplätzen, Ausbau von Radwegen und Busspuren) benachteiligt Landbewohner, die solche Städte bei vertretbarem Aufwand nur mit PKW erreichen können.

– zur Förderung der Windenergie hält Städte von Windkraft frei und etabliert 240 m hohe Anlagen in nur 1000 m Entfernung von ländlichen Siedlungen – wobei die wirtschaftlichen Vorteile überwiegend bei städtischen Investoren liegen

…und belastet Windenergie-Überschussgebiete wie Schleswig-Holstein und MV durch Netzentgelte mit den höchsten Strompreisen

…und entzieht Energie-Ansiedlungsentscheidungen demokratischen kommunalen Entscheidungen

…und steht für eine Werte-Hierarchie, bei der Vögel höheren Schutz genießen als Menschen

…und hat sich abgewandt vom Ursprungsideal dezentraler Erzeugung erneuerbarer Energien hin zu einer riesig dimensionierten Zentralisierung von Erzeugung einerseits und Verbrauch andererseits, die durch gewaltige Trassen verbunden werden, unter denen ländliche Räume leiden.

Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse:
Der dominante Diskurs…

– hypt das Urbane und verkennt, dass nur florierende ländliche Räume die städtischen Ballungsgebiete vor dem Kollaps bewahren.

– redet über „Gleichwertigkeit“ der Lebensverhältnisse und verschweigt, dass die EU-Förderpolitik das irreale Ziel der „Gleichheit“ der Lebensbedingungen (gemessen in BIP pro Kopf) verfolgt und zwingt so Fördersuchende in absurde Argumentationen

…bzw. zieht durch Schließung von Bildungs-, Kultur-, Kirchen- und medizinischen Einrichtungen, Behörden und Gerichten Bewohner ab, die wichtig für das ländliche Bildungs- und Engagementprofil sind.

– beklagt die Landflucht und fördert sie praktisch durch Schlechtreden ländlicher Gebiete und z.B. Verschlechterung der Infrastruktur, Ansiedlungs- und Bauverbote

…und entwickelt keine Zuwanderungskonzepte.

– beklagt zwar den Landarztmangel, redet aber der Vernichtung medizinischer Versorgungsstrukturen auf dem Land mit Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitsargumenten das Wort.

– redet über Bildungsförderung und ruiniert das Bildungsangebot auf dem Land durch eine kapazitätsorientierte Praxis, ohne moderne Konzepte für dünn besiedelte Regionen zu entwickeln.

Partizipation:
Der dominante Diskurs…

– feiert bürgerschaftliches Engagement und missbraucht es in der Praxis zum Abbau von Daseinsvorsorge (z.B. „Bürgerbus“)

… und torpediert die gerade auf dem Lande verbreitete Selbsthilfe und Selbstorganisation durch immer mehr Bürokratie (von Osterfeuer bis hin zur DSGVO).

– unterbindet improvisierte Problemlösungen auf dem Land (von der Kita über die Badeanstalt bis zum Metzger, Bäcker, Gasthof) durch immer dichtere Normen, die für die Stadt gemacht sind.

– redet gern über demokratische Partizipation, hat aber durch Gemeinde- und Kreisreformen bundesweit 300.000 Mandatsträger überflüssig gemacht, kommunale Kompetenzen entzogen und Einheiten ohne Identität geschaffen.

– gibt sich bürgerfreundlich, verlängert aber die Wege zu Ämtern unter Verwendung von Effizienzargumenten bzw. lobt online-Bürgerkommunikation (E-government) ohne die Internetversorgung sicherzustellen und ohne die digitalen Kompetenzen der Älteren und der weniger Gebildeten zu berücksichtigen.

Landwirtschaft:
Der dominante Diskurs…

– behandelt ländliche als bloß landwirtschaftliche Räume und ignoriert, dass die große Mehrheit der ländlichen Bevölkerung nichtagrarischem Erwerb nachgeht.

– propagiert eine Agrarromantik, ohne die Expertise der Agrarproduzenten ernst zu nehmen und angemessene Preise zu akzeptieren.

– nimmt in der Stadt die Zerstörung natürlicher Lebensräume hin und verlangt umso mehr Schutz auf dem Land – ohne Erfahrungen und Erwartungen der Landbewohner (z.B. beim Wolf) ernst zu nehmen.

– behandelt ländliche Räume als subventioniertes Zuschussgebiet, das dankbar sein soll, ignoriert aber, wer z.B. von Agrarsubventionen profitiert, und wo ländliche Steuer- und Beitragszahler urbane Strukturen (weiterführende Schulen, Hochschulen, Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen, Behörden) mitfinanzieren.

Identitätspolitik:
Der dominante Diskurs…

– feiert das Ideal einer diskriminierungsfreien Gesellschaft, ist aber blind für die alles überlagernde Diskriminierung bei Vermögen und Einkommen.

– propagiert Migration aus der Dritten Welt als Bereicherung ländlicher Räume (und wertet sie damit im Vergleich zu westdeutschen Gebieten mit hohem Migrationsanteil ab), lässt Behörden und Menschen vor Ort aber mit Verständigungs-, Versorgungs- und Integrationsproblemen allein.

– behandelt ländliches Protest-Wahlverhalten als Ausweis mangelnder Urteils- und Demokratiefähigkeit und fördert so, was beklagt wird.

Das alles bedeutet nicht, dass Landleben als ein einziges Elend erfahren wird. Im Gegenteil, die meisten Menschen leben dort in der Überzeugung, dass Landleben besser als Stadtleben ist.

Was ist zu tun?
1. rationale Debatten über unterschiedliche Interessen (und Erfahrungen) schärfen
2. durch Miteinander-Reden Brücken bauen
3. in einer Fundamentalpolitisierung nicht-politisierte Räume des geselligen und praktischen Miteinander fördern

Vor der Therapie gilt es aber an der Diagnose zu arbeiten und Problembewusstsein zu schärfen. Dafür braucht es geeignete Foren.
Es wäre eine Illusion zu glauben, mit ein paar netten Tools und Projekten das zu reparieren, was sich über Jahrzehnte neoliberaler Ausrichtung aufgestaut hat. Das lehrt auch ein Blick auf die USA und Großbritannien, wo vergleichbare Frustrationen in Trump und Brexit untaugliche Ersatzbefriedigungen suchen. Die Mehrheit der Deutschen lebt in ländlichen Räumen. Deren Interessen brauchen mehr Beachtung.

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