Aus aktuellem Anlass: Das Wunder von Bern: nach der großen Niederlage ein kleiner großer Sieg.

17 Jul
17. Juli 2018

Blog Nr. 183 /Juli 2018

Guten Tag,
nach dem für die deutsche Nationalmannschaft schmählichen Ausgang der Fußball-WM machte die DFB-Führung nahtlos dort weiter, wo sie mit der unnötigen langfristigen Vertragsverlängerung für J. Löw und seine Helfer vor der WM begonnen hatte: beim Weg in die Verkrustung: Der Trainer bleibt, der Stab bleibt, es gilt das „Weiter so“. Da bietet sich der lange Rückblick an. Das ist eine Methode, um richtig einzuordnen, was passierte und was passieren müsste. Mein Freund Hans Heinrich Peters, ein Fußball-Enthusiast mit breiter Berufserfahrung in der Wirtschaft, hat sich vor einiger Zeit in seinem Rotary-club an das spannende Thema gewagt. Er fand heraus, dass das „Wunder von Bern“ für die Konstituierung der Republik von großer Bedeutung war und zur Fehlinterpretation einlud. Vergleicht man heute Merkel und Löw, so waren es damals Herberger und Adenauer. Ich präsentiere H.H. Peters stolz als Gastautor auf meiner Homepage.

Mit besten Grüßen
Henning v. Vieregge

Hans Heinrich Peters, Hannover
„Das Wunder von Bern“ oder „ Die Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Wankdorf Stadion zu Bern“

I. Vorgeschichte
Das Wunder von Bern, das Endspiel um die Fußball-Weltmeisterschaft 1954, das Deutschland am 4. Juli sensationell mit 3:2 gewann, liegt in diesem Sommer 64 Jahre zurück.
Deutschland ist noch dreimal, 1974, 1974 und 2014 Weltmeister geworden, aber die Mannschaft von Bern hat immer noch Ausnahme-Charakter. Unter Fachjournalisten kann man noch heute die Elf von Bern problemlos aufsagen, bei 1974 und 1990 geraten fast alle ins Stocken.

Wie war das 1954? Es herrschte kalter Krieg, der Korea-Krieg ging zu Ende, die Franzosen zogen sich aus Indochina zurück. Über dem Bikini-Atoll wurde die erste Wasserstoff-Bombe abgeworfen mit einer Sprengkraft, 1000mal so stark wie die Bombe von Hiroshima; der nukleare Wettlauf begann. 1953 war Stalin gestorben, in der sog. DDR hatte es am 17. Juni 1953 einen Volksaufstand gegeben, danach verfestigte sich die deutsche Teilung. Am 17. Juni 1954 war der sog. Tag der deutschen Einheit erstmalig gesetzlicher Feiertag. Die Diskussion um die EVG, die Europäische Verteidigungsgemeinschaft befand sich auf ihrem Höhepunkt, die Entscheidung für die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik und Deutschlands Eintritt in die NATO.

Die Schrecken und die Entbehrungen, die mit den Kriegs- und ersten Nachkriegsjahren verbunden waren, verleiteten bald viele Deutsche dazu, sich als Opfer zu fühlen. Man war sich darüber einig, dass es„die Nazis“, allen voran Hitler und die „Parteibonzen“ waren, die Schuld an allem trugen, die eigene Rolle als Mitläufer und potenzielle Mittäter wurde wenig oder gar nicht reflektiert. Die Demütigungen, die der nationalen Trance folgten, waren zahllos. Um die Identifikation der Westdeutschen mit der Bonner Republik war es schlecht bestellt.

Und wie es sportlich, damals?
Deutschland durfte 1954 erstmalig nach dem Kriege wieder an einer WM teilnehmen. Dass Sport und Politik immer eng zusammenhingen lässt sich daraus ablesen, dass Deutschland an den Olympischen Spielen 1948 in London und der Fußball-WM 1950 in Brasilien als Verantwortlicher für den zweiten Weltkrieg nicht teilnehmen durfte, man war geächtet. 1952 durfte eine gesamtdeutsche Mannschaft wieder an den Olympischen Spielen in Helsinki teilnehmen, gewann dort einige Medaillen, aber keine einzige goldene. Reaktion in Deutschland: Nach den Kriegs- und Hungerjahren auch kein Wunder.
Eine kleine Episode noch zur WM 1950 am Rande: England als das Mutterland hatte es lange Jahre für unter seiner Würde gehalten, an solchen Turnieren teilzunehmen. 1950 gab man diese vornehme Zurückhaltung auf, verlor aber sensationell 0:1 gegen die Amateure aus USA. Weil das für englische Journalisten so völlig unfassbar war, glaubte man ernsthaft an einen Übertragungsfehler und ließ Zeitungen erscheinen mit dem Ergebnis: 1:0 für England.
Deutschland hatte sich für die WM 54 in einer Qualifikationsgruppe durchgesetzt gegen Norwegen und das Saarland, das zu dieser Zeit eigenständig unter französischer Kommandantur war. Zum Stichwort Sport und Politik: Ende der vierziger Jahre wurde von französischer Seite versucht, die Stimmung im Saarland zu Gunsten Frankreichs zu beeinflussen. Das ging soweit, dass dem 1. FC Saarbrücken als dem führenden Verein des Saarlandes ein Platz in der zweiten französischen Division eingeräumt wurde. Mit französischem Geld konnten schon damals gute Spieler verpflichtet werden, so dass gute Chancen auf einen Aufstieg in die erste französische Liga bestanden. Dies scheiterte dann allerdings am Widerstand der elsässischen Rivalen aus Straßburg.

Die Rückgliederung der Saar erfolgte zum 1.1. 1957, in der Schule mussten wir singen: Deutsch ist die Saar, deutsch immerdar.
Das Spiel Bundesrepublik – Saarland im März 1954 brachte für die innerdeutsche Politik erhebliche Aufregung: Vor dem Spiel durfte es weder Flaggen noch Hymnen geben, weil man unerwünschte Präzedenzwirkungen für den Umgang mit der DDR fürchtete. Und noch ein Hinweis am Rande: Betreuer des Saarlands war damals der spätere deutsche Bundestrainer und Herberger-Nachfolger Helmut Schön.

Die Ungarn waren zu dieser Zeit die alles überragende Mannschaft, die 1952 bei den Olympischen Spielen in Helsinki die Goldmedaille gewonnen hatte und danach in 32 Spielen ungeschlagen geblieben war. Innerhalb dieser Serie auch ein ganz wichtiges: Die englische Nationalmannschaft hatte bis 1953 noch nie gegen eine Mannschaft vom Kontinent verloren. Erstmals dann am 25. November 1953 und dann auch richtig heftig mit 3:6. Wir können uns heute gar kein Bild mehr davon machen, welche Auswirkungen dieser ungarische Sieg hatte, weil diese Mannschaft einen so wunderbaren, vollkommen neuen Fußball spielte, vergleichbar später vielleicht nur noch mit der brasilianischen Weltmeisterelf 1958, den deutschen Europameistern 1972 oder den holländischen Europameistern 1988. Getreu seinen politischen Vorgaben aus der Nach-Stalin-Aera nannte der ungarische Nationaltrainer Gustav Sebes das frei wechselnde Positionsspiel, dieses Beispiel für die Genialität eines Kollektivs „sozialistischen Fußball“.

Bei diesem Spiel England-Ungarn 1953 saßen zwei deutsche Experten auf der Tribüne und waren genau so begeistert wie alle, inclusive der Fachwelt. Sepp Herberger, der Bundestrainer und der Nationalmannschafts-Spieler vom HSV Jupp Posipal, der aus dem Grenzgebiet Rumänien-Ungarn stammte und ungarisch sprach. Herberger sagte auf der Rückreise zu Posipal in Bezug auf die Ungarn, die unglaublich überlegen waren, aber dennoch drei Gegentore einfingen: Ich weiß, wie es geht. Er wies damit hin auf eine Schwäche der Ungarn auf ihrer rechten Seite, weil sich der sog. Läufer – so hieß das damals noch – Boszik als 6. Stürmer häufig in das Angriffsspiel seiner Mannschaft einschaltete. Im Endspiel sollten alle drei deutschen Tore auf dieser Seite vorbereitet werden.

Einen Schock für die deutsche WM-Vorbereitung gab es am 24. Mai 1954. Damals gab es noch keine Fußball-Bundesliga, der deutsche Meister wurde durch ein echtes Endspiel ermittelt. Im Hamburger Volksparkstadion standen sich der hohe Favorit 1. FC Kaiserslautern und der Außenseiter Hannover 96 gegenüber und Hannover gewann 5:1. Das war deshalb so aufregend, weil in der Mannschaft aus Kaiserslautern 5 Männer mitspielten, die 6 Wochen später Weltmeister werden sollten. Herberger ließ sich durch bitterböse Presse-Kritiken nicht im geringsten beeinflussen und blieb bei seiner getroffenen Auswahl. In einer Sportzeitung hieß es damals. „Kein Schweizer Visum für Spieler von 96“.

Die Vorrunde der WM lief nach einem komplizierten Verfahren ab, das später nie mehr angewandt wurde. Nur deshalb war es möglich, dass Deutschland schon in der Vorrunde gegen Ungarn spielen musste. Herberger erkannte, dass man zu diesem Zeitpunkt des Turniers keine Chancen gegen die Ungarn hatte und schickte eine Mannschaft aufs Spielfeld, in der nur vier der späteren Weltmeister mitwirkten, ansonsten eine B-Mannschaft. Die Folge: Eine 3:8 Niederlage gegen die Ungarn, trotz der ungarischen Überlegenheit mithin drei Gegentore. Finsterste Reaktionen aus Deutschland, Morddrohungen vor allem gegenüber Herberger waren die Folge.

II Das Spiel
Dass Deutschland überhaupt das Endspiel erreichen würde, überraschte alle. Der Sender Stuttgart hatte ursprünglich nur die letzten 30 Minuten eingeplant, alle anderen Stationen immerhin die gesamte zweite Halbzeit.

Der Verlauf des Endspiels ist bekannt: Nach wenigen Minuten führten die Ungarn 2:0, die Deutschen konnten aber ebenso schnell ausgleichen. In der 84. Minute schoss Helmut Rahn das entscheidende Tor
Das Spiel selbst, aber auch die Berichterstattung darüber wurden zum Kult. Das lag vor allem an Herbert Zimmermann, dessen emotionale, ungewöhnlich subjektive Reportage mit Pathos und unverhohlenem Enthusiasmus damals von Millionen gehört wurde.
Zu Beginn des Spiels wurden die Zuhörer auf eine drohende Niederlage eingestimmt, häufig wurde darauf hingewiesen, dass allein das Erreichen des Finales ein riesiger Erfolg sei und man sich darüber schon freuen dürfe.
Klassische, fast legendäre Sätze wie:
Sie hören an der Geräuschkulisse, dass ein deutscher Angriff rollt
– Die Puszta-Söhne kommen nun, wie von der Tarantel gestochen, 58.000 Zuschauer im Berner Wankdorf-Stadion, doch keiner wankt
– An den Sekundenzeiger der Stadion-Uhr gewandt: Geh doch schneller geh doch schneller .Aber er tut es nicht, er geht mit der Präzision, die ihm vorgeschrieben ist.

Der Satz: Toni du bist ein Fußball-Gott rief nach dem Spiel die Kirchen auf den Plan, weil Torwart Toni Turek gleichzeitig auch als Teufelskerl bezeichnet wurde. In der Nachbearbeitung der Reportage für die offizielle Fassung wurde diese Passage durch eine andere Formulierung ersetzt.
Cineasten erinnern sich, dass in Fassbender beeindruckendem Film„Die Ehe der Maria Braun“ die Schlusssequenz akustisch untermalt wird von Zimmermanns sich überschlagender Stimme: Aus! Aus! Das Spiel ist aus!
Zimmermann, damals Sport-Reporter beim NWDR, war durch einen glücklichen Zufall Reporter dieses Spiels. Im Sport-Hörfunk gab es in der ARD auch noch den renommierten Kollegen Kurt Brumme, ein Vertreter der eher ruhig-sachlichen Linie, aber eben auch ein wenig langweilig. Vor dem Turnier gab es innerhalb des deutschen Reporter-Teams ein Münzwurf-Duell, das dann schließlich dazu führte, dass Zimmermann über das Endspiel berichten durfte. Zimmermann, Jahrgang 1917, hatte seine Berufsausbildung im „Dritten Reich“ genossen, und war damit natürlich beeinflusst, wie seinerzeit alle Deutschen,
von Veränderungen der deutschen Sprache hin zur „Lingua Imperii Tertii, wie sie Victor Klemperer beschreibt.
Es wird gemutmaßt, dass dies Grund für seine Beliebtheit vor allem bei jüngeren Hörern war, die sich nach „Ersatz-Helden“ sehnten.

In die höhere Literatur ist die Zimmermann-Reportage eingegangen doch Friedrich Karl Delius und sein Werk Der Tag an dem ich Weltmeister wurde. Daraus eine Passage:
Ich vertraute mich der fremden Stimme an, die geschmeidig und erregt die Begeisterung von Silbe zu Silbe trug und sich schnell steigerte zu „Riesensensation“ und „Fußballwunder“. Ich war sofort gefangen von dem Ton, da sagte ein Erwachsener in wenigen Worten endlich alles, was ich fühlte und nicht fassen konnte, ich sog die Stimme ein, ließ mich von ihr führen, heben und abwärts schaukeln. Das Spiel hatte bereits begonnen, im Hintergrund Zuschauerrufe, ich stellt die Sendernadel genauer ein, Frankfurt zwischen seltsamen Orten wie Hilversum, Monte Ceneri, Sottens und Beromünster, und als die Namen „Fritz Walter“ und „Rahn“ fielen und ein erster gewaltiger Schuss, den der Reporter mit einem wuchtigen Stimmstoß nachahmte, zuckte mir der rechte Fuß: Das Wunder war da, es gab eine direkte Verbindung zum Spielfeld in Bern. Dort regnete es heftig, ich stellte mich auf den Regen ein, wie schnell rutscht man auf nassem Rasen, und lief hinter dem Ball her, den ich nicht sah, auf dem Drehstuhl, dem Armstuhl vor dem mächtigen Schreibtisch meines Vaters, zum Radio gedreht, als könnte ich im Radio etwas sehen, als könnte mein Blick auf den braungelben, vor den Lautsprecher gespannten Stoff oder auf das magische grüne Auge den Verlauf des Spiels beeinflussen und den Ball vor die richtigen Füße lenken.
Parallel zur Zimmermann Reportage gab es natürlich auch in anderen Sendern bedeutende Reportagen. Für Österreich berichtete Dr. Willy Meisl, ein sprachlich außerordentlich versierter Reporter, der nebenbei auch noch Kabarett machte, aber in seinem Bericht immer noch litt unter der österreichischen 1:6 Niederlagen gegen die Deutschen im Halbfinale und insgeheim hoffte, die ungarischen k.u.k. würden das in alter monarchistischer Verbundenheit regeln. Besonders traurig war es natürlich im Ungarischen Rundfunk. Reporter war György Szepesi, eine Legende, heute noch dargestellt als der zwöfte Mann der ungarischen Mannschaft. Er berichtete eher in romantischem Stil, aber auch mit sehr vielen Emotionen. Dazu einige Ausschnitte:
Nach dem deutschen Ausgleich: Es ist schwer, sehr schwer. Wer hätte gedacht, dass die Deutschen einander die Bälle so gut zuspielen. Mit ihrer Stürmerreihe machen sie die ungarische Verteidigung verrückt.
Nach dem dritten deutschen Tor: Liebe Hörer, Rahns Schuss ist drin, in der rechten Ecke, sechs Minuten vor Schluss. Die Jungens stehen zusammengebrochen da. Die Menge schreit. Sechs Minuten noch. Blendend hat die ungarische Mannschaft gespielt. Ich kann nichts anderes sagen. Meine Tränen fließen, aber glauben Sie mir, dass die Jungens alles gegeben haben.
Für die DDR berichtete Wolfgang Hempel nüchtern in sehr sachlich, ruhigem Ton, seine Vorgabe durch die Partei bestand darin, dass er Westdeutschland sagen musste, niemals Deutschland, und dass er nicht übertrieben jubeln durfte. Das fiel ihm aber auch nicht sonderlich schwer, weil er natürlich ein ausgesuchter, der Partei Nahestehender war.

Das Spiel im deutschen Fernsehen
Das Fernsehen war 1954 kaum verbreitet, am 1.1. 1954 gab es in Westdeutschland 11.658 angemeldete Geräte, am Jahresende 84.278. Dass es nicht noch mehr waren, lag erstens an den hohen Preisen – ein Tischgerät kostete 1.200DM gegenüber dem monatlichen Durchschnittsgehalt eines Angestellten von 270 DM. Zum anderen an beschränkten Lieferkapazitäten. Im Laufe des Turniers, als die deutsche Mannschaft immer weiter kam, kam es in den Geschäften zu echten Schlachten um die letzten Geräte. Die Elektroindustrie gehörte ohnehin zu den Schlüsselbranchen des Wirtschaftswunders, deren Erfolg wurde 1954 durch die WM noch angeheizt wurde. In der nun entstehenden Rivalität zwischen Fernsehen und Hörfunk behielt der Hörfunk zunächst noch ganz eindeutig die Oberhand. – Der Fernsehkommentar des Endspiels wurde gesprochen von Dr. Bernhard Ernst, einem hoch angesehenen und seriösen Rundfunkmann der ersten Stunde, der aber natürlich die Popularität des Hörfunk-Reporters nicht erreichen konnte.

III Nach dem Spiel
Mindestens genau so interessant ist die Entwicklung nach dem Spiel – zunächst Ungarn:In Ungarn hatte es nach Stalins Tod eine Machtteilung gegeben. Der Stalinist Rakosy musste sein Amt als Regierungschef abgeben, blieb aber Parteichef, Regierungschef wurde der populäre Imre Nagy.
Zwischen Rakosy und Nagy herrschte starke Spannungen, die im Volk nicht verborgen blieben. Beobachter gingen so weit zu sagen, die sportlichen Erfolge der Fußballmannschaft seien der Kitt zwischen Volk und Regime gewesen, der Unruhen schon vor der WM verhindert hätten. Nach der Niederlage war dieser Kitt brüchig geworden. Bei der Rückfahrt nach Ungarn wurde der Bus der Mannschaft mit Steinen beworfen. In Budapest gingen Zehntausenden durch die Straßen, warfen Straßenbahnen um und Schaufenster ein, holten Bilder der Mannschaft aus Schaufenstern, warfen sie auf die Straße und verbrannten sie. Die Wohnung des Trainers Sebes wurde verwüstet,
Sebes musste nach überkommener kommunistischer Manier sich vor der Partei selbst anklagen. Es war das erste Mal nach 1945, dass es zu derart massiven Unmutsbekundungen kam. Es war das erste Fanal einer Entwicklung aus der Mitte der Bevölkerung, die dann etwas mehr als zwei Jahre später als ein Volksaufstand offen ausbrach.

DDR
Für die politische Führung der DDR war die WM ein Spagat. Die DDR nahm nicht teil. Den Ungarn drückte man ideologisch die Daumen, die westdeutsche Mannschaft wollte man zumindest wohlwollend behandeln, weil die Wiedervereinigung ja noch nicht ganz von der politischen Tagesordnung gestrichen war. Die Reaktionen in weiten Bereichen der gesteuerten Presse waren moderat, man gratulierte den Westdeutschen, sogar der später bekannte Fernseh-Kommentator „Sudel-Ede“ Karl-Eduard von Schnitzler. Das SED Organ Neues Deutschland konnte natürlich nicht von seiner Linie abweichen und vermutete, der Fußballsieg solle die chauvinistische Position stärken. Oder im Vorwärts: Bei diesem Spiel ging es darum, den Siegeszug der Amateure aus der ungarischen Volksrepublik zu stoppen, weil diese Elf aus dem Lager des Friedens kommt.

Die Bevölkerung freute sich herzlich mit, in Ostberlin sollen Vopos Freudensalven in die Luft geschossen haben. Der Reporter Hempel bekam eine Fülle von Hörerbriefen, in denen er wegen seiner so bewusst zurückhaltenden Reportage heftig kritisiert wurde.


Bundesrepublik

Die Entwicklung in der Bundesrepublik nahm natürlich einen ganz anderen Verlauf. Das begann schon unmittelbar nach dem Schlusspfiff in Bern, als bei der Siegerehrung das Lied der Deutschengespielt wurde und die 35.000 Deutschen unter den Zuschauern voller Inbrunst Deutschland, Deutschland über alles sangen, in der Rundfunkübertragung auch deutlich zu hören. Der Schweizer Rundfunk brach darauf hin seine Übertragung ab.
Um die politische Harmlosigkeit der Sängerinnen und Sänger nachzuweisen beeilte sich das Allensbacher Institut für Meinungsforschung mit einer Umfrage, deren Ergebnis beruhigend wirken sollte:Die überwiegende Mehrheit der Westdeutschen wisse doch gar nicht, wo Maas und Memel, Etsch und Belt überhaupt lägen.

Das Grundgesetz hatte sich zu dieser Frage nicht geäußert, ein förmliches Gesetz über eine Nationalhymne fehlt bis heute. Bundespräsident Heuss wollte den demokratischen Neuanfang auch mit einer neuen Hymne sichtbar machen und ersetzte im August 1950 das Deutschlandlied durch die Melodie „Ich hab mich ergeben“ (Brahms akademische Festouvertüre) Gleichzeitig wurden der Dichter Rudolf Alexander Schröder und der Komponist Carl Orff beauftragt, den Deutschen eine neue Hymne zu schreiben. Als Orff ablehnte, sprang Hermann Reutter ein und schuf die neue Hymne: Land des Glaubens, deutsches Land. Die Resonanz im Volk blieb aus.
In einem Briefwechsel vereinbarten Bundespräsident Heuss und Bundeskanzler Adenauer im Mai 1952: Bei staatlichen Anlässen wird die dritte Strophe Einigkeit und Recht und Freiheit gesungen.
Nur am Rande: Im November 1991 vereinbarten wieder in einem Briefwechsel Bundespräsident von Weizsäcker und Bundeskanzler Kohl, die dritte Strophe als Hymne der vereinigten Republik zu deklarieren.

Angesichts großer deutscher Sporterfolge im Sommer 1954 kam in den Kommentaren der ausländischen Presse gelinde gesagt ein Unwohlsein gegenüber Deutschland auf. Hans Günther Winkler war am 20.6. 1954 zum ersten Mal Weltmeister der Springreiter geworden, am Tage des Fußball-Endspiels gewannen Mercedes-Rennwagen den Großen Preis von Frankreich in Reims.
Die deutsche Presse und ihre Kommentare gaben aber auch Anlass zu Besorgnis. Bei der Leichtathletik-Europameisterschaft, die wenige Wochen nach der WM in der Schweiz stattfand (Heinz Fütterer!) wurden die guten Leistungen der deutschen Sportler mit spürbarer Zurückhaltung aufgenommen.

Die Rückkehr der Fußballspieler nach Deutschland in einem Sonderzug der Deutschen Bundesbahn wurde zu einem Triumphzug nie gekannten Ausmaßes. Entlang der Bahnstrecke standen Tausende und bei kurzen Aufenthalten auf kleineren Bahnhöfen machten Tausende das Abfahren zu Risikoaktionen. Alles hatte aber seine Ordnung: Auf dem Bahnhof von Singen/Hohentwiel sollen fast 15.000 Menschen gewesen, es wurden an diesem Tage aber zunächst auch noch 6.000 Bahnsteigkarten gekauft. Wenn man zum Jubeln ging, kaufte man auch eine Bahnsteigkarte, das musste sein.

Eine ganz üble Rolle sollte – wie auch leider später nicht selten – der Deutsche Fußballbund spielen. Zunächst gab es unter den Spitzenfunktionären erbitterten Streit, wer später in welchen offenen Wagen zwischen den Spielern und Trainer Herberger sitzen und durch die jubelnden Massen fahren durfte und wo die offizielle Siegesfeier stattfinden sollte. Diese fand dann in München statt und wurde zu einem unrühmlichen Höhepunkt, der ein gut Teil der gewonnenen Sympathien zu vernichten drohte. Der damalige DFB-Präsident Peco Bauwens, der durch die großen Maschen der Entnazifizierungsprozeduren geschickt geschlüpft war, hielt eine Rede, die dunkelste Erinnerungen wachrief.
Bauwens hatte schon bei der Neugründung des Deutschen Fußball Bundes 1949 auf sich aufmerksam gemacht, als er sagte:Bei den hohen Idealen, die wir vertreten, hört die Demokratie auf.
Bei der offiziellen Weltmeisterfeier des DFB im Löwenbräukeller ging es dann wirklich zur Sache: Bauwens lobte die Mannschaft als “Repräsentanten besten Deutschtums im Ausland“, angefüllt mit dem „Geist der guten Deutschen“ und stellt den Sieg letztlich dar als eine längst fällige Reaktion auf die Phase der Ungerechtigkeit, mit der man Deutschland seiner Ansicht nach behandelt hatte. Der deutsche Sieg habe gezeigt, „dass es Schlacken auf dem Sport und auf dem deutschen Volk nicht mehr geben kann“.
Als dann auch noch der germanische Gott Wotan persönlich als Helfer der deutschen Mannschaft ausgemacht wurde und das „Führerprinzip“ beschworen wurde, brach der Bayerische Rundfunk seine Original-Übertragung im Radio ab und spielte Tanzmusik. Es sollte nur die erste in einer längeren Reihe von Ungeschicklichkeiten und bösen Patzern der DFB-Spitzenrepräsentanten sein.
Die Politik hatte zunächst mit der Sportart Fußball wenig im Sinn. Adenauer interessierte sich nicht für die ehemalige Proletensportart Fußball. – Nach der Weltmeisterschaft gab es Eifersüchteleien zwischen dem für Sport zuständigen Innenminister Gerhard Schröder (CDU) und dem für Wirtschaft zuständigen Minister Franz Blücher (FDP), wer denn der Mannschaft ein Glückwunschtelegramm schicken dürfe. Ergebnis: Beide telegrafierten.
Die Telegramme von Adenauer und Heuss unterschieden sich feinsinnig. Während Adenauer die Anteilnahme „des ganzen deutschen Volks“ erwähnt, belässt es Heuss unverbindlich bei der „Freude Millionen Deutscher“.
Heuss wurde am 17. Juli 1954 für eine zweite Amtszeit gewählt.
Zunächst nur als Auftaktveranstaltung zur zweiten Amtszeit, dann aber auch – wohl weit wichtiger- um der deutschen Mannschaft die höchste deutsche Sportauszeichnung zu verleihen, das Silberne Lorbeerblatt zu verleihen, fand am 18.Juli im Berliner Olympiastadion eine Feierstunde vor 85.000 Zuschauern statt. Diese Gelegenheit nahm Theodor Heuss wahr für einige wohltuende Klarstellungen. An die Nationalmannschaft gewandt sagte Heuss:
“Aus Ihrem uns alle so erfreuenden Sieg haben manche Leute draußen und drinnen so etwas wie ein Politikum gemacht. Es ist primitiv und töricht, wenn manchen Zeitungen und Kommentare den Deutschen es verübelten, dass sie sich freueten. Das wäre nämlich überall so gewesen. Der gute Bauwens, dem ich nachher die Silbernadel gebe, der meint offenbar, gutes Kicken ist schon gute Politik. Das muss nicht so sein. Schön, wenn es das ist.“
Schließlich auch noch an Reporter Zimmermann gewandt:
Ich habe gelesen (!!), Turek sei ein Fußballgott. Ich glaube er ist ein guter, zuverlässiger Torwart und das soll er auch bleiben.“
Am Schluss der Veranstaltung sprach Heuss den Text der Nationalhymne, die ganze dritte Strophe des Deutschlandlieds, laut ins Mikrophon und diesmal gab es keinen, der den Text verwechselte.

Die Spieler
Eine der Lieblingssprüche von Herberger war. „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel“ Das galt in besonderem Maße natürlich für die Spieler, die eine Popularität ungeahnten Ausmaßes erlebten – allein, sie konnten damit nicht so richtig etwas anfangen. Einerseits weil die Prämien sich damals in sehr bescheidenem Rahmen hielten, zum anderen, weil die Spieler allesamt aus den sog. kleinen Verhältnissen kamen und mit den Rahmen nicht umgehen konnten, in die sie nun gestellt wurden.
Herberger hatte schon eine Vorliebe für die sog. kleinen Leute.
Spieler einfacher Herkunft und schlichter Schulbildung, die ihn an seinen eigenen Werdegang erinnerten, hatten bei Herberger immer einen Bonus, Herberger tat sich schwer mit Spielern, die ihm selbstbewusst und unabhängig erschienen.
Einzelne Spieler boten besondere Möglichkeiten zur Identifizierung, an der Spitze der Mannschaftskapitän Fritz Walter, der aktiv am Krieg teilgenommen hatte und auch in Gefangenschaft gewesen war. Im Gegensatz zu heute gab es aber keine Berufsabsicherungen, man bekam bestenfalls eine Toto-Lotto-Annahmestelle oder eine Tankstelle: Wollt Ihr Eurem Otmar danken, müsst Ihr täglich bei ihm tanken

IV. Bewertung und Ausblick
War denn nun der Sieg in Bern die Gründung der Bundesrepublik Deutschland? Die Juristen lernen, dass ein Staat dann als solcher zu qualifizieren ist, wenn es ein Staatsgebiet, ein Staatsvolk und eine Staatsmacht gibt.
Von Nationalbewusstsein oder auch nur Emotion kommt da nichts vor, obwohl man ahnt, dass es ohne Gefühl nicht geht.

Als am 4. Juli 1954 Deutschland Fußball-Weltmeister wurde, gerieten deutsche Gemüter millionenfach in Ekstase, als wenn die Scharte des 8. Mai 1945 doch ausgewetzt worden sei. Eine Nation schien sich reinzuwaschen durch das Vorzeigen von grundanständigen und politisch unauffälligen Kickern, die nur ihr Bestes geben wollten und sich artig daran hielten, dass der Bessere gewinnen möge und Fehlentscheidungen des Schiedsrichters unwidersprochen hinzunehmen seien.
1954 haben die Deutschen im Fußball ein historisch unbelastetes Feld gefunden. Die WM gab den Deutschen nationale Identität zurück. In der kollektiven Bewegung des Vergessens und Überspielens der Vergangenheit erstand die nationale Identität der wirtschaftlichen Zukunftshoffnung.

Der Sieg ist in seiner Wirkung auf das Selbstbewusstsein der Westdeutschen lange Zeit unterschätzt worden. Wenn auch mit einigen hässlichen Tönten durchmischt, trug dieser Sieg dazu bei, die junge Republik zu stabilisieren und half, dass es nicht zu einer grundsätzlichen Ablehnung kam, wie bei der Mehrheit der Deutschen gegenüber der Weimarer Republik.

War es ein Wunder?
Sicherlich eine riesige sportliche Überraschung, aber rückblickend ist festzustellen, dass die gesamte Entwicklung der jungen Republik nach allem, was gewesen war, so unwahrscheinlich war, dass man es als Wunder bezeichnete. Dabei wurde der Begriff schließlich inflationär gebraucht. Die deutschen Spieler waren Konditionswunder, nur deshalb konnten sie das Wunder von Bern schaffen, das seinerseits wiederum half, das Wirtschaftswunder noch weiter voranzutreiben. Wieder in den Blickpunkt der Weltöffentlichkeit gerückt, stellten Journalisten und Fotografen fest, wie hübsche Mädchen es in Deutschland gab, eben ein Echtes Fräuleinwunder. Und regiert wurde das Land von Konrad Adenauer, einem – so Sebastian Haffner – Wundergreis.

Nur kurz noch oft angestellten Vergleich Adenauer- Herberger
Adenauer und Herberger hatten, jeder konnte es sehen, etwas durchgemacht, die hatten nicht nur überlebt, die wussten auch, wo es langging. Die einfache Sprache, über die beide verfügten, vergrößerte ihre Vertrauenswürdigkeit.
Herberger: Der Ball ist rund Das nächste Spiel ist immer das schwerste – Adenauer: Die Lage war noch nie so ernst
Immer wirkten sie, bei aller autoritärer Machtausübung, volkstümlich und launig.
In Deutschland artikulierte man erstmals ein unterschwellig vorhandenes, aber sehr unsicheres Nationalgefühl. Ein Nationalgefühl, das sowohl den Westdeutschen ihre Republik näher brachte, als auch gesamtdeutsch empfunden wurde. Dieses Gefühl blieb lange abstrakt, bis 1990, bis nach dem Mauerfall. Dann gewann Deutschland noch einmal eine Weltmeisterschaft. Und erst danach sah man Deutsche aus Ost und West in den Straßen zum ersten Mal gemeinsam schwarz-rot-goldene Fahnen schwenken. Einmal mehr war eine Last von ihnen gefallen.

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