Brief 9/2010: Norbert Blüm zum 75.
Erfolgreichster Problemverschieber

01 Jul
1. Juli 2010

Am 21. Juli diesen Jahres wird Norbert Blüm 75. Er war von 1982 bis 1998 Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung. Er war also in den achtziger und neunziger Jahren der wichtigste Sozialpolitiker Deutschlands. Er verdient eine unverblümte Ehrung.

Als der damalige JU-Chef Philipp Mißfelder vor sieben Jahren öffentlich überlegte, ob in Zukunft wohl jedermann jeden Alters noch ein künstliches Hüftgelenk bekommen könne, brach ein Sturm medialer Entrüstung über ihn herein. Für FOCUS (33/2003) erschien es nun „zweifelhaft, ob der ehrgeizige 23 jährige Chef der jungen Union (JU) jemals Ministerhöhen erklimmen wird.“ Es war der Gießener Hochschullehrer Reimer Gronemeyer, der gegenüber Mißfelders Kritikern feststellte, sie gehörten einer Generation an, „die es zum ersten Mal geschafft hat, die Folgeprobleme des eigenen Lebensstils in die nächste Generation zu verlagern: Schuldenberg und Klimakatastrophe zum Beispiel.“

Gronemeyer hätte noch als drittes die fehlende Nachhaltigkeit der Sozialsysteme benennen können. Dabei waren seit den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts jedem, der es sehen wollte, zwei wichtige Fakten klar: das Ende der hohen Wachstumsraten und der Beginn der demographischen Verwerfungen. Kaum jemand in der deutschen Politik hat diese Trends wortgewaltiger bestritten und im politischen Handeln stärker mißachtet als Norbert Blüm.

Aber: Blüm, nicht allein im Generationshaus.

Meine Generation, die 50 bis 75 jährigen, räumen in diesen Jahren mehr oder weniger friedlich ihre Arbeitsplätze. Spätestens dann gibt es für Politiker Orden. Kein unnötiger Neid: Normalbürger können sich einen kaufen. Er trägt in den Nationalfarben die Aufschrift „Endlich Ruhestand, ruh dich aus, Du hast es verdient.“ Den Orden liefert Amazon zusammen mit der blauen Fun-Tasse, Aufschrift „Ich befinde mich im Ruhestand, voll im Stress, keine Zeit“ zum Vorzugspreis von 14,81€. T-Shirt und Bücher eines Peter Butschkow wie „Überleben im Ruhestand“ (Oldenburg 2008), runden das Rentereingewöhnungsprogramm ab.

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Denn gerade für den Deutschen, so verrät der Klappentext des Überlebensbuches, sei ein Leben ohne Arbeit anfänglich ungewohnt. Aber, so das Leistungsversprechen für den Käufer, am Ende des Buches werde man etwas haben, was man in der Arbeit (angeblich) verlernt hat: das Lachen. T-Shirt und Kappe helfen zur pensionären Vollausstattung. Und wenn sich keine Heiterkeit einstellt? Dann müssen Staat, Krankenkasse oder Bundesversicherungsanstalt ran und uns Nichtarbeitsentwöhnte mit Liegekuren und Selbsterfahrungsgruppen („Ich döse, also bin ich“) dahin bringen, daß wir, was uns zusteht, auch wollen: das Leben im Ruhestand. Amazon sollte zu Blüms Geburtstag eine Sonderausgabe der Gewöhnungs- und Selbstbelohnungsutensilien mit dem Konterfei des Jubilars und seinem bekanntesten Satz „Die Rente ist sicher“ herausbringen, aktualisiert abgewandelt in „Unsere Rente ist sicher, ätschibätschi“. Denn wir wissen doch, daß es keiner Generation zuvor im Alter so gut geht wie der Blümschen bis, sagen wir, zum Auslaufen der Babyboomer (also bis ca. Jahrgang 63).

Und danach? In den „Empfehlungen“ der wissenschaftlich hochrangig zusammen gesetzten Akademiegruppe Altern in Deutschland heißt es: „Eine greisenhafte Erstarrung unserer Gesellschaft zeichnet sich ebenso wenig ab wie der oft beschworene Krieg der Generationen. Allerdings besteht Handlungsbedarf. Der demographische Wandel erhöht den ohnehin vorhandenen Veränderungsdruck auf die Einzelnen und die Kultur , auf Gesellschaft und Politik.“ (Kocka,Staudinger 2009: 23)

Wollen die Wissenschaftler uns mit ihrem Fazit beruhigen oder beunruhigen? Der Ökonom und Soziologe Gunnar Heinsohn , um nur den zu zitieren, breitete vor wenigen Monaten (FAZ 16.3.) eine Zahlenreihe aus, die unseren Jubilar und seine Generationsgenossen nicht wirklich beunruhigen muß. Wenn Deutschland nicht schrumpfen oder vergreisen wolle, brauche es 2,1 Kinder je Frauenleben, geboren werden 1,4. Damit fehlten von 100 Kindern 35. 15 der 65 seien nicht ausbildungsreif, 10 verlassen das Land. Selbst wenn die Verbliebenen alle arbeiteten, müßten im Jahr 2060 einhundert Verdiener für knapp 120 Nichtverdiener aufkommen.

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Stichwort Rente, Generationenverantwortung: Hier kommt Norbert Blüm wie kein anderer ins Spiel. Ich erinnere mich an einen Disput zwischen Kurt Biedenkopf und Norbert Blüm, Arbeits- und Sozialminister unter Helmut Kohl. Biedenkopf sagte, es muß Anfang der achtziger Jahre gewesen sein, für 2012 den Zusammenbruch des Rentensystems in der damaligen Form voraus und forderte die Umstellung des Rentensystems auf das Versicherungsprinzip. Dafür brauche man eine Generation Zwischenfinanzierung. Danach ist jeder für seine Altersrente selbst verantwortlich. Blüm konterte, Biedenkopf sei ein Defaitist und die Rente bis 2011 sicher. Blüm legte mit der Einführung der Pflegeversicherung 1995 noch einen drauf, als wiederum die Finanzierung Warnungen von Fachleuten zum Trotz nicht nach dem Versicherungsprinzip erfolgte.

Norbert Blüm ist seinem Anspruch, ein entschiedener Verteidiger der Generationenverantwortung zu sein, auf für die erste Nachkriegsgeneration examplarische Weise nicht gerecht geworden. „Lebe glücklich, werde alt, bis die Welt in Stücke knallt“, ist kein Spruch, der Blüm zugeschrieben wird. Aber gehandelt hat er danach.

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