Documenta noch bis 25. September: Nichts wie hin oder lieber nicht? Fünf Thesen zur Meinungsbildung
280/Sept. 2022
Guten Tag,
Bis zum 25. September ist die Documenta in Kassel noch zugänglich. Besuchen oder nicht besuchen, das ist hier die Frage.
Die Entscheidung liegt natürlich bei jedem Einzelnen. Aber Entscheidungshilfen sind möglich.
Erstens: Aus der angekündigten Lern- und Sympathie Veranstaltung „Süden trifft Norden“ ist eine ziemlich vermurkste Angelegenheit geworden. Damit ist eine Chance vertan: Größere Kluft statt mehr Verständnis ist das Ergebnis.
Wohl keine Documenta ist so hitzig diskutiert worden wie diese 15. Aber eben leider über die Documenta und nicht auf der Documenta. Mit liebedienerischer Zustimmung ist ebenso wenig gewonnen wie mit strammer Verdammung. Der Dialog hätte moderiert werden müssen. Leider fehlten Persönlichkeiten und Institutionen, die die Lücke überbrückten, die der Skandal riss. Die Leitung der Documenta bleibt kopf- und kraftlos. Der Etat beträgt 40 Millionen. Macht man den Künstleraktivisten zum Vorwurf, dass sie kritisieren und kassieren, wird mit dem Gegenvorwurf geantwortet, dass es doch nur darum gehe, dass sich der Westen sein schlechtes Gewissen frei kaufe. Da seien 40 Millionen nicht zu viel.
Zweitens: Diejenigen, die die diesjährige Ausrichtung der Documenta zu verantworten haben, (wer ist das eigentlich gewesen?), waren sicher der Ansicht, sich in einem dreifachen Mainstream zu befinden: Künstler, die sonst unbekannt sind, stellen sich vor, es gibt nicht einen Kurator, sondern viele, die im Kollektiv agieren und Aktion und Kunst bilden eine enge Verbindung.
Dazu Näheres: Ein indonesisches Kollektiv wurde als gemeinsame Kuratoren eingeladen. Das indonesische Kollektiv, eine Gruppe namens Ruangrupa, setzte dann noch einen drauf, indem sie verkündeten, sie wollten keine Alleinbestimmer sein. Sie luden mit gehörigem zeitlichem Vorlauf 15 andere Kollektive ein, redeten miteinander und verabredeten, dass diese ihrerseits weitere Kollektive nach ihrer Wahl einladen könnten. Raum – und Geldentscheidungen sollten diskursiv geklärt werden. Man nahm also die 40 Millionen in Empfang und verteilte sie. Dieses Vorgehen sollte „eine alternative Ökonomie der Kollektivität, des gemeinsamen Ressourcenaufbaus und der gerechten Verteilung“ (Flyertext) sicherstellen. Damit sollte die Documenta nicht statisch sein, sich also fortlaufend verändern und nicht nur einen langen Netzwerk schaffenden Vorlauf haben, sondern auch nachhaltig wirken.
Drittens: In dieser Documenta dominiert die politische Botschaft die Kunst.
Die Künstler, die als Individuen nicht hervortreten sollen (tun es aber teilweise doch), verstehen sich in der ganz überwiegenden Zahl als politische Aktivisten. Sie liefern somit Zweck-Kunst. Ist Zweckkunst Kunst? Man kann das wohl mit Blick auf sozialistisches oder faschistisches Kunstverständnis verneinen, sollte aber einräumen, dass es eine Grauzone gibt, die Adorno mit den Begriffen Engagement und Tendenz gekennzeichnet hat: Engagement ja, Tendenz nein.
Nach meinem Eindruck ist ein Großteil der Bilder, Videos usw. reine Tendenzkunst, was sich alleine darin verdeutlicht, dass Wimmelbilder überwiegen und erklärende oder verstärkende Beschriftungen als notwendig erachtet werden. Kunst, die nicht aus sich wirkt? Fast immer geht es um Rassismus und Kolonialismus. Der globale Süden klagt global den Westen an. Das kann man machen, aber kann man es auch als Kunst bezeichnen? Und wo sind die Foren, auf denen die Vorwürfe und Feststellungen verhandelt werden?
Viertens: Antisemitismus als zentrale Erregung: richtig aber überreagiert und zu kurz gesprungen.
Es gab Vorwarnungen von jüdischer Seite. Das hielt die Politik nicht davon ab, die Documenta vorab zu lobhudeln. Nach dem Auffinden antisemitischer Zeichen steigerten sich die Oberverantwortlichen (OB Kassel, Regierung Hessen, Kulturbeauftragte Bund) in einen Empörungs- Überbietungswettbewerb. Der gipfelte in Forderungen nach einer Art Zensurbehörde, die Generaldirektorin hatte ihren Hut zu nehmen und ein großes Wimmelbild, am Eingang zum Fridericianum aufgestellt, mit antisemitischen Bildmotiven, musste abgehängt werden. Eine distanzierende Erklärung wäre wohl angemessener gewesen. Bei einer wirklich bösartig antisemitischen Zeichnung eines palästinensischen Künstlers reagierte man eher hilflos, ebenso auf Hasstiraden.
Natürlich ist Antisemitismus in Deutschland in no go. Sind solche Motive in Indonesien Teil von üblichem antikapitalistischen Malaktionismus? Könnte es nicht sein, dass das eigentliche Thema der Angriff auf „unsere“ Werte ist, wobei auch hierzulande nicht klar ist, ob es sich um europäische, westliche, abendländische, demokratische oder schlicht universalistische Werte handelt, also Werte, die unabhängig von Raum und Zeit gelten sollen und die hier von den People of Colour auf dieser Documenta nahezu durchgängig an den Pranger gestellt werden? Dieser Angriff, versehen mit Begriffen wie Rassismus, Kolonialismus, Christentum hat sein inneres Pendant in der linken Identitätspraxis. Antisemitismus ist unter diesem Blickwinkel ein wichtiger Unterfall der Debatte weiß gegen schwarz. Bazon Broock hat sinngemäß gesagt: „Dies ist die beste Documenta, die es je gegeben hat. Denn sie ist so schlecht, dass sie uns herausfordert, unsere Werte bei der nächsten Documenta zu präsentieren.“ Ob es dazu kommt? Ob die Intellektuellen im Westen, von denen sich viele angewöhnt haben, sich für jede Ohrfeige zu bedanken, weil sie sie doch sensibel gemacht habe, sich zu dieser Klarstellung, die dann nicht durch Agitatoren sondern durch Künstler erfolgen müsste, .aufraffen? Damit ist die Frage gestellt, was auf die Documenta 15 folgt
Fünftens: Man muss sich für die Zukunft zwischen Abschaffung und Neuerfindung der Documenta entscheiden, ein Weiterwursteln verringert die Wettbewerbsfähigkeit der Documenta insbesondere gegenüber der Biennale in Venedig weiter.
Ein Weiterwursteln ist allerdings die wahrscheinlichste Variante. Denn die Documenta ist die einzige Chance von Kassel, sich weltweit bekannt zu halten. Die hessische Landesregierung steht verlässlich unter dem Vorwurf, nicht genug Geld nach Nordhessen zu schaufeln. Und der kleinere bundesdeutsche Anteil wird auch nicht abgedreht werden, weil man Einfluss behalten möchte.
Wenn man allerdings über neue Wege für die Documenta nachdenkt, hilft „back to the roots“. Mein Vorschlag ist, dass man wie am Anfang der Documenta einen Verantwortlichen benennt, der für zwei oder drei Documenta Kurator ist. Das sichert Kontinuität. Zweitens kann man überlegen, ob ein Land oder ein Kontinent den jeweiligen Schwerpunkt bildet. Und drittens sollte man in jedem Fall die Präsentation deutscher Künstler, der berühmtesten in Form von Lebenswerk-Würdigungen, eventuell an einem festgelegten Ausstellungsort vorsehen.
Zwischen Intellektualität und Vergnügen gilt es viertens eine neue Balance zu finden, so wie bei der Weltausstellung 2000 zwischen Ustinov und Feldbusch.
Wer prüfen will, ob an vorgestellten Thesen etwas dran ist, sollte den Besuch der Documenta nicht versäumen.
Mit herzlichen Grüßen
Henning v. Vieregge