Aeham Ahmad-Der Pianist aus den Trümmern

17 Feb
17. Februar 2020

Blog 224 vom 17. Februar 2020

Guten Tag,
Aeham Ahmad beeindruckt: mit seinem Klavierspiel, seinem Gesang und seinem Buch „Und die Vögel werden singen -Ich, der Pianist aus den Trümmern“. Für ein Rotary-Konzert in Marburg als Schlussstein eines Kongresses, den Governor Rainer Moosdorf und ich als Incoming Governor gemeinsam verantworteten, bei dem Musiker Rudolf Piehlmayer aus dem Buch las und beim Schlussstück auf der Klarinette begleitete,sind die nachfolgenden Textstellen aus dem Buch gesammelt. Die Fotos von Christoph Müller stammen aus diesem Konzert vom 8.2. 2020.

Mit besten Grüßen
Henning v. Vieregge

Siehe auch den Beitrag aus der Oberhjessischen Presse vom 19.2. 2020
Oberhessische Presse 19.2.2020 zu Distrikthalbjahreskonferenz Ausschnitt

8. Februar Marburg DiTV
Anmoderation (von Jörg Hahn)
Liebe rotarische Freundinnen und Freunde, die Themengruppen liegen hinter euch, das Finale Furioso vor euch.
Am Flügel sitzt Aeham Ahmad. Er, Jahrgang 1988, stammt aus Yarmuk, einem Vorort von Damaskus, zu Friedenszeiten 650.000 Menschen, zumeist Flüchtlinge aus Palästina. Auch Aeham Ahmads Familie, die Großeltern, sind Flüchtlinge. Yarmuk wurde bekannt als ein Ort, in dem lange eine mit dem Assad Regime verbündete Palästinensergruppe das Sagen hatte, bei Ausbruch der Kämpfe gegen Assad übernahm die Freie syrische Armee das Viertel, danach die jihadistische Al Nusra und hernach die IS. Bei jedem Wechsel, bei jeder Radikalisierung flohen die Menschen aus dem von der syrischen Armee abgeriegelten und geschossenen Yarmuk. Aeham Ahmad blieb, schob sein Klavier in die Trümmer und sang mit Kindern und Erwachsenen die von ihm geschriebenen Lieder, um sich selbst und ihren Mut zu machen. Ein Granatensplitter verletzte seine Hand, er machte weiter. Weil er mit Freunden es schaffte, eine Internetverbindung aufzubauen, wurde er als der Pianist aus den Trümmern weltweit bekannt. Als IS-Leute sein Klavier zerschlugen, wusste er, es geht um Leben und Tod. Er wusste auch, dass er bei seiner Flucht aus Syrien nach Europa nur eine Chance haben würde, wenn er seine Frau und sein Kind zurücklässt. Das war das Schlimmste für ihn. In Deutschland halfen und helfen ihm viele, darunter an prominenter Stelle zwei Rotarier aus Wiesbaden, Elke Gruhn und Tilo von Debschitz. Die Familienzusammenführung gelang insbesondere mithilfe von Elke Gruhn, heute sind Frau und Kind und auch seine Eltern, der Vater ist ein blinder Instrumentenbauer, mit ihm zusammen in einem Dorf in Nordhessen. Aeham-ahmad kann von seinen Konzerten leben. CD und sein Buch und die Vögel werden singen liefern zusätzliche Einnahmen. Ich empfehle Ihnen nach dem Konzert den Weg zum Büchertisch.
Aeham Ahmad hat seine Heimat zweimal verloren, über die Großeltern, die zu Flüchtlingen wurden und nunmehr selbst. Kann er in der neuen Heimat Wurzeln schlagen? Offene Heimat Rotary, der Pianist und Sänger verkörpert ein Stück dieses Leitspruch für 20/21.
Ihm zur Seite sitzt Rudolf Piehlmayer, Dirigent und Mitglied des Rotaryclubs Frankfurt Alte Oper. Er war bis 2009 Generalmusikdirektor des Staatstheaters Augsburg und ist seitdem national und international in Engagements, ein Schwergewicht seiner Tätigkeit liegt in Frankreich. Lieber Rudolf, lieber Aeham Ahmad, bitte sehr.

Wenn Du vor Hunger und Bomben fliehst, lässt Du deine Welt zurück. Und verwandelst dich in eine jener grauen Gestalten, die schon immer im Elend gelebt haben müssen und nun nach Europa kommen, um teilzuhaben am großen Reichtum. So behaupten es jene, die nicht verstehen, wer wir sind und woher wir kommen. Die Angst haben vor uns. Doch meine Geschichte ist eine ganz andere. (15)
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Sein Vater, mein Großvater, gehörte zu jenen Palästinensern, die 1948 aus dem heutigen Israel vertrieben wurden. Mehr als 700.000 Menschen mussten ihre Heimat verlassen. In den Strom der Vertriebenen reihte sich auch die Familie meines Großvaters ein. Sie stammt aus der Gegend von Safad und baute dort Feigen und Aprikosen an, Zitronen und Orangen, besaß Kamele und Schafe. Und weil sie glaubte, der Krieg würde nicht lange dauern, ließ sie fast alles dort. Doch es gab kein Zurück. Am Ende landete die Familie mit leeren Händen in Dili, einem Dorf im Süden Syriens.(23)
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In unserem Haus gab es sechs Wohnungen, für meinen Großvater, für uns und für vier Brüder meines Vaters. Über uns wohnten Onkel Mohammed und seine Frau, Tante Ibtihal. Mit ihr hat meine Mutter sich überhaupt nicht verstanden. Was haben die beiden gezankt!… Die Männer der Familie hörten dann demonstrativ weg. Es gibt eine Redewendung bei uns: Wenn sich die Frauen streiten, sollen die Männer lächeln. Oder sich zumindest heraushalten. Man kann es nur schlimmer machen…. Und ohnehin – wenn an einem Tag die Fetzen flogen, hatten sich am nächsten Tag wieder alle gern. So ist das bei uns. Alle leben im selben Haus, zumindest in derselben Straße, ganz bestimmt aber im selben Viertel. Nie wäre jemand auf die Idee gekommen, von der Familie wegzuziehen. Schon gar nicht wegen eines Streits. Die Familie ist alles. Ohne Familie bist Du nichts. Alle halten zusammen. Wie sehr mag ich Tante Ibtihal heute. Stundenlang können wir telefonieren. (31f.)
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Erinnere ich mich an meine Kindheit, dann scheint immer die Sonne. Nicht einen Regentag sehe ich vor mir. Ich erinnere mich an den Duft des Jasminbaums und den Geruch der Olivenölseife, mit der ich mir jeden Morgen das Gesicht wusch. Ich erinnere mich an die Hitze des Sommers, das Hupen der Autos, die Rufe der Gemüsehändler und das Ploppen des Fußballs gegen unsere Hauswand. (36)
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Wie gut, dass es ihre Ina Ramadan gab. Jene Pianistin, die verheiratet war mit einem Freund meines Vaters und uns mein Klavier vermittelt hatte. Irina hatte an der Tschaikowsky – Musikakademie in Kiew studiert, ehe sie ihren Mann kennen lernte und mit ihm nach Damaskus zog… Bei ihr begriff ich, was Musik ist. Sie brachte mir bei, in die Stücke hinein zu horchen, ihren Überschwang und ihre Melancholie zu entdecken. Bei ihr vergaß ich die Freudlosigkeit meiner syrischen Lehrer, die nur auf meine Fehler achteten und mir jegliche Freude an der Musik abschnitten. Verspielt und ungestüm stürmten meine Finger bei ihr über die Tasten. Aus dem engbrüstigen Gehorchen wurde Herzensleichtigkeit. Bei ihr spielte ich so zügellos wie eine Mozart Sonate… Fünf Jahre lang bin ich jeden Montag zu ihr gefahren. In diesen frühen Jahren ist der Lehrer alles. Magst Du ihn, strengst Du dich an. Magst Du ihn nicht, verlierst Du die Lust.(53f)
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Nach der sechsten Klasse kam ich auf die Mittelschule. Der Schuldirektor war ein furchtbarer Mann, jähzornig und laut. Auch diese Schule wurde finanziert von der UNRWA, und eigentlich gab es auch hier keinen Grund, die syrische Nationalhymne zu spielen. Aber der Direktor – einer dieser über angepassten Palästinenser, der sogar in die Baath Partei von Diktator Assad eingetreten war – bestand darauf….“ Das ist nicht unser Land“ murmelte ich. Was? schnappte der Direktor. Er holte aus zu einem langen Vortrag. Syrien! Heimat! Akzeptieren! Integrieren! Vaterland! Blablabla. Ich hörte weg. Als er fertig war, befahl er, die Hymne zu singen. (58f.)
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„Was habe ich davon, wenn ich Klavierspielen lerne?“, herrschte ich meinen Vater eines Nachmittags an.“ Was bringt mir das? Kein Mensch kennt hier Mozart.““ Du sollst eine Sprache lernen, die jeder versteht“, sagte mein Vater. „Wir sind Flüchtlinge. In die Heimat können wir nicht. Du sollst international sein.“ „Aber wir leben in Yarmouk! In Yarmouk! In Syrien!“ Ich hatte die Nase voll.“ Ich höre auf“, rief ich, stand auf und schlug den Klavierdeckel zu. (64f.)
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Im zehnten Jahr der Musikschule hatte ich meine Abschlussprüfung. Alles ist schiefgelaufen. Wirklich alles. Und trotzdem ging es gut aus… Ich war sicher nicht der begabtesten Klavierspieler, aber ich gab nicht auf. Für andere Kinder war der Musikunterricht selbstverständlich. Mein Vater und ich hatten darum kämpfen müssen. Das muss er (der neue Direktor) in diesem Moment begriffen haben. Und auch ich war gerührt. So viele Male hatte ich mich unwillkommen gefühlt an der Musik Schule. So viele Male hatte man mir zu verstehen gegeben, dass ich nicht hierher gehörte. Warum hatte mich nicht eher jemand in den Arm genommen? Was hätte ich die Schule geliebt. Was hätte ich die Musik geliebt. (81,84)
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Doch Musiker werden? Daran dachte ich zu jener Zeit in keinem Augenblick. Ich wollte ein Haus bauen, heiraten, eine Familie gründen. Ich hatte mir, aus welchem Grund auch immer, in den Kopf gesetzt, ein Grundstück in Dili zu kaufen, im Süden Syriens. Dort, wo mein Vater geboren wurde, um ein Großvater nach seiner Flucht aus Palästina sein erstes Stück Land gepachtet. Zurück zu meinen Wurzeln, so entwurzelt wir auch waren.(86)
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Die Immobilienpreise in Jamouk waren inzwischen explodiert. Das einstige Flüchtlingslager hatte sich verwandelt in ein beliebtes Einkaufsviertel, längst wetteiferten auch Syrer darum, hier ein Geschäft zu eröffnen. Um die 650.000 Menschen lebten in Jamouk, 100 tausende kamen jeden Tag zum Einkaufen. In der Jamoukstraße und in der Palästinastraße reihte sich ein blinkende Geschäft an das nächste. 30 Millionen £ (650.000 €) musste man hinblättern, um dort ein Ladenlokal mittlerer Größe zu kaufen, oder 1 Million £ (20.500 €) pro Jahr, um eines zu mieten. Selbst die Eingänge zu den Häusern wurden vermietet, so lukrativ war das.(88)
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Selbst gesungen habe ich damals nicht. Ich mochte meine Stimme nicht. Ich dachte, sie sei nicht gut genug. Ich bat andere, die Stücke vorzutragen, und begleitete sie auf dem Klavier. Noch als die Bomben fielen, als ich schon ein Lied nach dem anderen komponierte, bestand ich darauf, nicht selbst zu singen. Lieber begleitete ich gänzlich unmusikalische Männer, als meine Stimme zu erheben. Erst als auch diese Männer, inmitten der Belagerung, deprimiert zu Hause blieben, erst, als ich wirklich niemanden mehr hatte, den ich begleiten konnte, erst da habe ich mich getraut. Schob das Klavier zwischen die Ruinen, schloss die Augen und sang.(104f.)
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In manchen Monaten haben wir 450 Lauten produziert. Sie kamen unter dem schlichten Namen“ Damaszener Laute“ in den Handel. Wir waren Palästinenser, wir hatten keine syrischen Pässe. Mein Vater entschied, auf eine Website oder einen Markennamen zu verzichten. Wer uns kannte, bestellte die Lauten, überwies das Geld per Western Union und erhielt wenig später die Ware.(127f.)
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„Tahani“ sagte meine Mutter. Ihre Familie kommt aus Palästina, wie wir. Sie träumt auch davon, Kinder zu haben.“ Wo wohnt sie?“ „Du weißt, dass wir dir das nicht sagen dürfen.“ „Ich möchte sie kennenlernen“ „Das ist nicht erlaubt. Du weißt es. Erst verlobt ihr euch, dann lernt ihr euch kennen.“(135f.)
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jedes Jahr am 15. Mai gedenken wir der Nakba, der Katastrophe, der Vertreibung von mehr als 700.000 Palästinensern im Jahr 1948. (155) Am 6. Juni, drei Wochen später, war die Naksa, der Tag des Rückschlags, zum Gedenken an den Sechstagekrieg im Jahr 1967, in dessen Verlauf Israel die Golanhöhen und ganz Palästina besetzte. (156f.)
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Eigentlich durfte man in Syrien erst heiraten, nachdem man seinen Militärdienst absolviert hat. Mein Vater kannte jemanden, der jemanden kannte, der mir gegen ein Bakschisch die Erlaubnis zur Heirat in den Wehrpass gestempelt hatte. Doch auch mit Frau und Kind könnte es mich jederzeit erwischen. In diesen Tagen galt nichts von dem, was einmal gegolten hatte.(175)
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Unser Viertel war nun abgeriegelt. An den Ausgängen lauerten die Scharfschützen der syrischen Armee, unterstützt von den Milizen des Generalkommandos. Jarmouk verwandelte sich in eine Geisterstadt. Jarmouk war nun in der Hand der FSA. (179) Am 18. Juli 2013 war es soweit: Jamouk wurde abgeriegelt. Von einem auf den anderen Tag waren die Checkpoints dicht. Keiner kam mehr heraus, niemandkam mehr hinein. Kein Reis, kein Öl, kein Milchpulver, kein Zucker. Die Belagerung begann. Der Strom wurde abgestellt. Die Lebensmittelpreise explodierten. (188f.)
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Wir waren jetzt Höhlenbewohner, die Pupillen geweitet vom schwachen Kerzenschein, die Gesichter schwarz vom Ruß der Holzfeuer. (190)
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Da gab es plötzlich eine Explosion und einen Schlag, ich lag bewusstlos am Boden….“ Ja, alles o. k.“, murmelte ich wie betäubt. Mir tat nichts weh. Ich spürte, dass etwas nicht stimmte. Aber was? „Bist Du sicher?“, schrie er. „Deine Hand blutet!“ Ich schaute hinunter. Aus meiner rechten Hand quoll Blut, im Takt meines Herzschlag. „Was ist los?“, nuschelte ich. „Eine Granate ist eingeschlagen!“ Ich untersuchte meine rechte Hand. Mein Zeigefinger und mein Mittelfinger hingen schlaff hinunter.“ (195f.) Jahre später, in Deutschland, bin ich einmal zu einem Arzt gegangen. Der hat meine Finger geröntgt und untersucht.“ Deine Finger können unmöglich funktionieren“, sagte er.“ Wie willst Du damit Konzerte spielen?“ Die Nerven in den beiden Fingern seien zu 70 % zerstört. Ich weiß es auch nicht, wie es ging.(198f.)
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Und wenn ich in den folgenden Monaten Videos von mir ins Netz laden konnte, aus dem belagerten Yarmouk,, wenn ich der Süddeutschen Zeitung und dem Guardian Interviews gab, wenn ich später Live Konzerte via Skype veranstaltete, die übertragen wurden nach Belgrad oder Beirut, dann war es war Raed, der die Kameras, Batterien und Halogenscheinwerfer bediente. Nur ihm verdanken das. (207)
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Yarmouk sei ein Todeslager, schrieben die Zeitungen in Europa. 18.000 Menschen – von eins 650.000 – sollten die noch zwischen den Ruinen leben. (211)
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Wieder setzte ich mich daheim ans Klavier. Dieses Mal komponierte ich in Dur, ich hatte Mozart im Ohr, ich wollte es besonders eingängig machen. Wie zahme Vögel kamen mir die Töne geflogen. Nach einer halben Stunde war der Song fertig. Er würde mein größter Hit werden, wenn ich das so sagen darf.
Ach mein liebes vertriebenes Volk
treibst dich schon so lang rum
kommt ihr Lieben, komm zurück!
Ihr fehlt uns doch schon viel zu lang!
Liebst Du heute in Oudsayya:
Yarmouk vermisst dich, Bruder!
Liebst Du heute in Bahrain:
Yarmouk vermisst die Seinen!
Liebst Du heut in Dscharamana:
Yarmouk vermisst dich, Bruder!
Liebst Du heut in der Türkei,
Du bist Yarmouk nicht einerlei! Nur
liebst Du heut im Libanon:
Du fehlst uns viel zu lange schon.
Wo auch immer Du heut lebst,
Yarmouk vermisst dich, Bruder! (220f.)
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Trotz dieser Mühsal, trotz dieser Schrecken – oder deswegen? – war dieses erste Halbjahr 2014 die produktivste Zeit meines Lebens. Die Musik sprudelt nur so aus mir heraus. 160 Lieder habe ich in diesen Monaten komponiert, fast jeden Tag eines. Morgens standen wir für den UNRWA – Karton an, gingen Wasser holen oder Hornklee ernten. Nachmittags trafen sich die Yarmouk- Jungs, so hießen wir inzwischen, bei mir im Laden. Kurz probten wir den neuen Song, schon schoben wir das Klavier hinaus in die Straßen und spotteten der Not. (240)
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Ich bat Niraz Saed, den Fotografen, mich zu filmen. Dabei schoss er jenes Bild, das die Welt ging. Ich saß im grünen T-Shirt am Klavier und sang, das erste Mal allein. Der Pianist in den Trümmern. Alle verstanden dieses Bild. Es war der 21. April 2014. (249)
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Ein Mann in einem weißen Kittel kam heran. Ich kannte ihn nicht. Was ist passiert? fragte er. „Ein Scharfschütze hat sie getroffen“. Er fühlte ihren Puls. Er leuchtete mit einer Taschenlampe in ihre offenen Augen. Sie ist tot. Die Welt taumelte… (262) Mein Leben war zu Ende. Ich war mit Zeinab gestorben. Ich wollte nicht weiterleben. Ich ertrug diese Schuld nicht. (264)
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„Wie geht es dir? Bist Du in Sicherheit?“, war meine erste Frage. „Alter! Das ist Deutschland! Na klar ist es hier friedlich.“ Und meine zweite Frage war: „Wie gefährlich ist der Weg?“ Anderthalb Stunden lang erklärte er als mir. Die Route, die Preise, die Risiken… Er schloss mit den Worten: „So, ich muss jetzt Schluss machen. Ich muss zur Schule.“.“ Zur Schule?“ „Jeder muss hier einen Deutschkurs machen. Du ahnst nicht, wie anstrengend das ist.“ Wow.. Am Ende gab er mir einen Rat: „Bringe deine Familie mit. Wenn Du einmal hier bist, ist es fast unmöglich, sie nachzuholen“.(290f.)
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Anfang April war es soweit: Der IS eroberte Yarmouk. Anfangs leistete eine Hamas – Milizwiderstand und lieferte sich blutige Straßenkämpfe mit den schwarzgekleideten Fanatikern. Doch der IS war stärker. Oder zahlte besser… Nicht lange, da erzählte man sich, dass in der Nähe des Feldlazarett von Hadschar al-Aswad die Leichen Dutzende gekürzter Hamas –Kämpfer liegen… Die Stimmung im Viertel veränderte sich radikal: alle misstrauten einander plötzlich. Jederzeit konnte mich ein Schwätzer verzweifeln, sie zu mir führen und sagen: Hier, das ist er. Das ist der Idiot, der immer auf der Straße Klavierspiel. Es wird auch höchste Zeit, erneut zu fliehen. Zurück nach Yalda.“ (291f.)
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Kurz vor dem ersten Checkpoint klettere ich in einen Hohlraum zwischen den Kisten. Wir kommen unbehelligt durch. Ich setze mich wieder nach vorn. Schon liegt Homs hinter uns… Später, in einem Zimmer, schalte ich den Fernseher ein. Auf Aljazeera sehe ich Trecks von erschöpften Menschen , die über ungarische Felder ziehen.“ Bilder eines Exodus“, kommentiert der Sprecher. Dann der Münchner Hauptbahnhof: Einheimische reichen den ausgezehrten Flüchtlingen Blumen und applaudieren.“ (326f.)
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Immer näher kommt der Strand von Lesbos. Und dann sind wir da. Die Leute springen ins Wasser, waten an Land, vor Freude weinend. Auch mein Onkel und ich umarmen uns und strahlen uns an. Zugleich habe ich nur einen Gedanken: wie konnte ich meine Frau und meine Kinder in Syrien zurücklassen?.. Ich muss jetzt keine Angst mehr haben zu ertrinken. Hoffentlich werde ich einen Ort erreichen, an dem ich in Sicherheit bin und wohin ich meine Familie nachholen kann. Ahmad und Kinan ist und meine Frau. Jeder Ort der Welt ist schön, wenn sie da sind. (342)
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Abends, wenn ich in meinem Stockbett lag, schaute ich mir auf meinem Telefon die Filme von Yarmouk an. Wie es den Kindern wohl ging? Ich fühlte mich schuldig. Aeham, wirst Du immer mit uns singen?, hatten sie mich gefragt. Immer!, Hatte ich geantwortet. Doch dann war ich davongelaufen. Ganz entsetzlich sehnte ich mich in diesen Momenten nach Tahani, Ahmad und Kinan. Ich war jetzt allein. Schrecklich verloren fühlte ich mich. (346)
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(Judith Holofernes) Zum Abschied machte sie eine fragende Geste. Ob sie mich umarmen dürfe? Ich hob verlegen die Schultern – und dann nahmen wir einander freundschaftlich in den Arm. So, wie man es offenbar in Deutschland macht. Für mich war das komplett neu. Noch nie hatte ich eine andere Frau als Tahani umarmt. Auch das war wohl etwas, dass ich in Deutschland lernen musste (350)
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Von weitem sehe ich Tahani. Durch die Tür, ein Alarm geht los, was mir vollkommen egal ist. Ich laufe zu ihr und umarmen und küsse sie und schließe meine beiden Jungen in die Arme. Endlich bin ich wieder ganz. Ahmad, inzwischen fast vier, lächelt mich an. „Hallo Onkel“, sagt er. Ich küsse ihn und rufe: „Baba! Ich bin dein Papa!“ (357)
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Wie melancholisch ich an manchen Tagen bin. Wie wütend ich an manchen Tagen bin. Wie glücklich ich an manchen Tagen bin. Das scheint mir, die dunklen Tage werden seltener. Wird mein Leben heller, hier in Deutschland? Und dann gibt es Tage, die so hell leuchten, dass ich das Schreiben von allen Schuldgefühlen. Es sind Tage, an denen mir ein besonders schönes Konzert gelingt. An den ich spüre, ich habe etwas erreicht, da die Welt ein ganz klein bisschen besser gemacht. Dann lehne ich mich zurück und singe voll Inbrunst meine Lieder, die zu Tränen rühren, die Trost spenden und uns gemeinsam an ein Morgen glauben lassen. (361)

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