Erinnerung an meine liebste Großmutter

22 Sep
22. September 2015

Brief 106/September 2015

Guten Tag,

neulich kam in einem Freundeskreis das Gespräch auf die Großmütter. Es gab keinen, der bei diesem Thema nicht ins Schwärmen kam. Ein Freund erzählte, seine Großmutter habe immer mal gesagt, vor der Tür steht ein Bär und brummt. Das habe ihm als kleinem Jungen ungemein gefallen. Denn immer, wenn sie das sagte, habe sie gefurzt.

Die abendliche Runde hat mich animiert, über meine Lieblingsgroßmutter nachzudenken und mir die Frage zu beantworten, warum sie das war.

Ich hatte drei Großmütter und nannte sie Ömi, Großmutti und Großi. Großi war die, die die anderen (meine Eltern) Tante Lisa nannten. Ich wusste, sie war meine Adoptivgroßmutter. Nicht wir haben sie adoptiert, sondern sie mit ihrem Mann meinen Vater, als der klein war. Das aber zählte für mich in keiner Weise.

Von ihren neun Geschwistern erzählte sie mir viel. So, dass jede Schwester einen Passbruder hatte, und die Pärchen schenkten sich zum Geburtstag etwas. Und wenn die Mädchen nicht fügsam waren, gab es Zungi. Das bedeutete, dass der andere mit seiner Zunge der Tadelswerten übers Gesicht fuhr; das war wohl Höchststrafe.

Von dem im 1. Weltkrieg gefallenen Bruder berichtete sie in ihrer lapidaren Art so, dass ich als kleiner Bub mir das merkte. Offenbar machte der Bedauernswerte drei Fehler: Er ging von Mecklenburg weg (nach Hamburg), hatte eine Brille und lernte etwas Kaufmännisches für die Kolonien. Alles drei besiegelte, so verstand ich Großi, sein Schicksal: denn beim Ausbruch des 1. Weltkriegs war er in Afrika, wurde Soldat oder auch nicht,  verlor jedenfalls seine Brille und verlief sich ins feindliche Feuer.Ihre Geschichten knallten einem um die Ohren.

Ihre knappe Art korrespondierte mit ihrer Eile. Sie war immer in Eile. Mit Rückschlägen hielt sie sich nicht lange auf. Sie fuhr einen Daf. Der hatte Automatic, was ihr Arbeit ersparte, und war von einem holländischen Lastwagenhersteller gebaut, ein robuster Kleinwagen also, und das war für sie als  miserable Autofahrerin eine gute Wahl. Einmal –ich meine, sie rauchte und dachte an Vieles, nur nicht ans Autofahren- kamen wir zu weit rechts, landeten gewissermaßen im Kiesbett, der Wagen schleuderte. Nach meiner Erinnerung hat  er sich sogar gedreht und stand auf der anderen Seite in Gegenrichtung, aber das mag eine Nachwürzung der Fantasie zur stärkeren Dramatisierung sein. Mich, ich war vielleicht zehn, erschütterte der Vorfall jedenfalls schon, sie nicht. Während ich noch zitterte, sagte sie so etwas wie Glück gehabt und setzte die Fahrt ohne weiteres fort.

Sie führte einem Herrn v.P. den Haushalt, der hatte einen kleinen Hof in der Marsch bei Bremen gepachtet oder gekauft. Vor der Küche stand ein großer Apfelbaum  Ich sollte die Äpfel pflücken, eine Leiter wurde herbeigeschafft, ich kletterte hoch und fing an. Dummerweise waren die besten Äpfel noch weiter oben. Da traute ich mich nicht hin. Unten stand Großi und rief mir zu, ich solle höher klettern. Es war keine Bitte, sondern eine harsche Aufforderung. Ich erinnere nicht, was ich tat, außer dass ich mich meiner Ängstlichkeit schämte. Und irgendwie stolz war auf eine Großmutter, die keine Angst um ihren Enkel  hatte.

Als Großi mit ihrem Bruder Voß (so wurde er aus mir unbekannten Gründen genannt) in Bonn-Röttgen zusammenzog, waren zwei schnelle Alte unter einem Dach. Beim Essen musste ich mich ranhalten. Denn  die beiden Alten aßen wie im Wettkampf und kaum waren sie fertig, wurden  die Teller abgeräumt. Als ich mich beim Nachtisch über das Tempo  beschwerte, sagte Großi: „Blöde Hunde werden nicht fett“. Ich glaube, ich ahnte damals schon, dass dies ein Leitspruch für mein Leben werden sollte.

Diese Großmutter  war viel schneller als die anderen alten Leute, sie war direkter und  sie forderte. Und sie handelte selber so, wie sie es anderen abverlangte. Ich glaube, sie kam mir deswegen sehr viel moderner vor als alle anderen Familienmitglieder dieser Generation. Ich hatte bei ihr das Gefühl, als junger Mensch ernst genommen zu werden. Hinter der rauen Schale spürte ich  ihre Liebe und freute mich auf die gemeinsame Zeit in Bonn. 1968 im Herbst wechselte ich nämlich von der Bundeswehr dorthin, um mit dem Studieren zu  beginnen. Leider kam ich zu spät. Sie starb einen Monat zuvor.

Mit herzlichen Grüßen

Henning v. Vieregge

 

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