Brief Nr. 25/2012: Rede zum Hundertsten (Ein Gastbeitrag von Jens Kegel)

27 Jan
27. Januar 2012

Jens Kegel will zu seinem hundertsten Geburtstag auch eine Rede halten, die er jetzt schon mal aufgeschrieben hat. Der Berliner Sachbuchautor („Selbstvermarktung freihändig“, Göttingen 2009) hat sich von meiner Rede (Brief Nr. 24) inspirieren lassen und redet doch ganz anders. Lesen Sie selbst oder besser: Reden Sie den Text.

„Vor genau einhundert Jahren dachte meine Mutter: Ob das wohl was wird? Es wurde. Angesichts des zu früh geschlüpften Kükens und fehlender Brutkästen war ihre Sorge berechtigt. Heute, im Jahr 2065, päppeln Brutkästen Menschlein auf, die es noch viel eiliger haben.

Wenn ich so in die Geburtstags-Runde blicke, hüpft mein junges Herz vor Freude. Lauter Menschen mit Falten. Wenn das kein Zeichen für gelebtes Leben ist!

Es ist ja noch gar nicht lange her, da spritzten sich die Menschen Zellgift unter die Haut, um jünger auszusehen. Sie gingen in eine Klinik und ließen den Fettabsauger saugen. Sie investierten nicht in Geist und Gehirn, sondern in völlig überteuerte Cremes. Ich bin heilfroh, dass sich der Jugendwahn zum Alterswahn gewandelt hat. Und ich bin froh, einer Generation anzugehören, die es gut hatte. Sehr gut sogar. Ihr runzelt Eure runzlige Stirn? Es gibt keinen Grund.

Unsere Generation, liebe Freunde, ist die erste seit vielen Jahrhunderten, die ohne Krieg aufwachsen konnte. Darauf möchte ich mit Euch das erste Mal anstoßen. Unsere Generation hat die zweite deutsche Diktatur überwunden. Darauf: Hoch die Tassen! Unsere Generation ist in einem der reichsten Länder der Welt aufgewachsen. Mit mannigfachen Bildungs-Chancen. Mit einer funktionierenden Demokratie. Ja, sie funktioniert. Wir sind die ersten, die Computer, Handy und all diese neue Technik nutzen konnten. Noch mein Vater hat auf einer Schreibmaschine rumgeklappert und mit Tipp-Ex hantiert. Ja, ihr jungen Hühner da hinten in der Ecke. Ich sage Euch nachher, was das war, eine Schreibmaschine.

Unsere Generation hat sinnvoll gearbeitet, lustvoll Urlaub gemacht und noch lustvoller Kinder gezeugt. Zumindest die meisten von uns.
Auf all dies: Ein Prosit!

Wenn ich uns in der langen Geschichte der Menschheit einordne, dann sind wir wahre Glückspilze. Nicht, weil ich Probleme und Sorgen negiere oder schönfärben will. Weil ich Sorgen und Probleme aus der Adlerperspektive betrachte und sie darum schrumpfen. Hat einer von uns wirklich jemals das verspürt, was unsere Sprache als Hunger bezeichnet? Oder war es nicht eher Appetit. Konnten wir wirklich von einem Problem sprechen, wenn der Zug eine halbe Stunde zu spät kam. Waren es wirklich Sorgen, wenn wir zu entscheiden hatten: Das Auto oder jenes, diese Hütte oder eine andere, die Jeans oder vielleicht lieber doch jene… weil jene doch so gut zum vierzehnten Paar Schuhe passt.

Unsere Generation hat nicht nur von den Kämpfen profitiert, welche unsere Vorfahren ausgefochten haben. Wir haben auch von jenen gelebt, die zeitgleich mit uns diesen Planeten bevölkern. Gut, dass heute diese zum Himmel schreienden Unterschiede zumindest abgeschwächt wurden..

Das Schönste an uns Grauköpfen aber ist, dass wir ohne Krebs alt werden. Mit Implantaten und Schrittmachern und künstlichen Organen ausgestattet, das ja. Aber all diese Wunderwerke funktionieren doch, oder? Damit wir all den jungen Hüpfern hier im Saal unter Achtzig mal zeigen, wie gut die Technik in und an uns funktioniert, hab ich uns allen eine Rarität mitgebracht. Ja, jetzt könnt Ihr staunen und die falschen Zähne zeigen. Ich habe sie gefunden. Sie ist schwarz, rund und mit einem Etikett beklebt. Darauf zu sehen ist eine Blonde und eine Brünette, ja, auch zwei Kerle. Ich bitte Euch, zeigt dem jungen Gemüse, dass unsere Gehirne sich noch erinnern. Klaus, leg die Nadel in die Rille. Meine Damen, darf ich nunmehr bitten: Thank your for the music. ABBA.“

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