Das neue Jerusalem, gleich um die Ecke Wie aus einer großen Utopie ein kleines reales Glück wurde

29 Aug
29. August 2016

Blog 127
Guten Tag,

In das Nachdenken über Menschheitsglück ist Ernüchterung gezogen: die ganz großen Würfe führten blutig in die Irre. Damit ist die Sehnsucht aber nicht erloschen; im Gegenteil befördert subjektive Verunsicherung, wie wir sie gerade hierzulande erleben, solche Wünsche. Da kann man nur hoffen, dass die Rattenfänger, die prompt ihre Flöten zücken, unerhört bleiben. Was wir brauchen, das sind kleine pragmatische Schritte. Im 2014 als Taschenbuch erschienen Romas „Judas“ von Amos Oz findet sich die Geschichte einer pragmatischen Traum-Realisierung:

Amos Oz lässt in seinem Judas-Roman einen seiner drei Hauptfiguren, den alten Gerschom Wald, die Geschichte von Kreuzfahrern erzählen, die aus der Gegend von Avignon zur Mitte des 11. Jahrhundert gen Jerusalem aufbrachen, „eine Stadt wie keine andere auf der Welt, eine Stadt, in der es nichts Böses und

kein Leid gab, nur himmlische Ruhe und tiefe reine Liebe, eine Stadt, vom ewigen Licht des Erbarmens überflutet“, wie es in dem Roman heißt. Wer möchte nicht so leben. Oder, fragten sich die Kreuzfahrer, wenn sie verzagten, ist dieses so ersehnte Jerusalem vielleicht gar keine Stadt, sondern nur Ausdruck unserer Sehnsucht? Als sie nach vielerlei Irrungen und Wirrungen, Epidemien und Enttäuschungen zum nördlichen Ufer des Adriatischen Meeres gelangten, ins heutige Slowenien, kamen sie in ein Tal, das sie als göttliche Oase empfanden. „So kam es, dass die Kreuzfahrer sich untereinander berieten und beschlossen, diesem gesegneten Tal den Namen Jerusalem zu geben und hier ihre zermürbende Reise zu beenden.“ Der Erzähler berichtet, wie die Kreuzfahrer sich ansiedelten, eine kleine Kirche mit einem hübschen Glockenturm bauten und die Mädchen des Dorfes am Rand des Tals heirateten, Kinder bekamen, die, wie es weiter heißt, „in Jerusalem aufwuchsen und vergnügt im Jordan planschten, die barfüßig durch die Wälder von Bethlehem streunten, den Ölberg erklommen, herunterliefen in den Garten Gethsemane, zum Kidronfluß und nach Bethanien, oder sie spielten in den Weinbergen von Ein Gedi.“ Der Erzähler Gerschom Wald schließt seine Geschichte mit den Worten: „ Sie leben in ihrem Jerusalem in Ruhe und Frieden, ein jeglicher unter seinem Weinstock und unter seinem Feigenbaum. Bis ans Ende aller Tage.“

Nachtrag 3. September: Was bei Oz nicht so klar ist, sagten mir heute Slowenen, als ich die Geschichte erzählte: Wir kennen diese Geschichte. Es ist keine Metapher. Du kannst dieses Jerusalem besuchen. Es liegt zwischen Drau und Mur in der Nähe von Ljutomer. Ich blättere in den Reiseführern. Der deutlich umfangreichere aus dem Michael Müller Verlag schweigt zur Entstehungsgeschichte des slowenischen Jeruzalems, der kleinere Dumont hat eine andere Version als Oz. Demnach kamen Ritter des Deutschen Ordens 1222 auf Geheiß des Salzburger Erzbischofs. Sie sollten demnach gegen die Ungarn kämpfen und seien bis zum frühen 20. Jahrhundert geblieben. Gegen die Ungarn? Wohl eher nicht, denn die hatten selber den Orden gegen die Mongolen zur Hilfe gerufen. Die Verteidigung des Abendlandes war Kernaufgabe des Ordens. Auch liegt das slowenische Jeruzalem auf dem Berg (so wie das biblische neue Jerusalem auch) und nicht im Tal. Dichtung ist fast immer attraktiver als die Wahrheit, aber auch diese taugt zum Erzählen.

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