Jungchemiker, Seniorenangebot und Doppelmitgliedschaft: Bei der Gesellschaft Deutscher Chemiker gibt es Besonderheiten

12 Apr
12. April 2021

252/April 2021
Guten Tag,
wieder verweise ich gern auf die Zeitschrift Verbändereport. Dort ist in der Nr.1/2021 ein Interview erschienen, das ich mit Prof. Wolfram Koch geführt habe. Hier der Einstieg:

UNSERE FACHGRUPPEN
DÜMPELN NICHT“
Die Chemiebranche ist bekannt dafür, dass sie mit ihren Organisationen, Arbeitgeberverband
und Gewerkschaft eingeschlossen, sehr kooperativ zusammenarbeitet.
Wolfram Koch, Geschäftsführer der Gesellschaft Deutscher Chemiker (GDCh),
bezeichnet dieses Maß an Kooperationspraxis sogar als „Alleinstellungsmerkmal unserer
Branche“. Besonders ungewöhnlich ist etwa die Möglichkeit einer Doppelmitgliedschaft
in der GDCh und dem VAA, dem Führungskräfteverband der angestellten Akademiker
in der chemischen Industrie. Darüber hinaus sind auch die Öff nung der GDCh u. a. für
Studierende ebenso wie der Aufbau eines Angebots für Senioren der Branche wichtige
Erfolgsfaktoren. Die GdCH versteht sich in erster Linie als Netzwerk aller in der Chemie
Tätigen oder daran Interessierten. Was dies praktisch heißt, erläuterte Prof. Koch im
Gespräch mit Henning von Vieregge.

Wer sich für die Gesellschaft Deutscher Chemiker interessiert, erfährt hier mehr.
Mit besten Grüßen
Henning v. Vieregge

VR: Sie sind seit 18 Jahren Geschäftsführer; was waren die wesentlichen Veränderungen in der Gesellschaft Deutscher Chemiker seitdem?

Es hat sich eine ganze Menge verändert, nicht zuletzt, weil die Wissenschaft Chemie sich permanent verändert und sich das in unserer Struktur wiederfindet, so in der Zusammensetzung unserer Fachgruppen, so in den etwa 60 Ortsverbänden. Das sind alles Standorte, an denen Chemie eine Rolle spielt, in der Regel Universitätsstandorte, aber auch Industriestandorte.

VR: Es gibt 50 Universitäten mit Chemieausbildung, habe ich gelesen.

Genau! Aber es gibt auch Standorte wie Ludwigshafen oder Leverkusen, die keine Universitäten haben, an denen aber große Industrieunternehmen der Chemie tätig sind oder Aalen mit einer großen Hochschule für angewandte Wisssenschaften. Auf der anderen Seite gibt es in der GDCh über 30 Fachgruppen und Arbeitskreise, die sich mit verschiedenen Unterdisziplinen befassen. Da ist immer eine große Dynamik, weil wir auf die Entwicklungen in unserer Wissenschaft reagieren wollen und müssen. In den letzten Jahren sind neue Fachgruppen dazu gekommen, die nicht nur die klassischen Felder vertreten, sondern auch eher quer zu diesen Unterdisziplinen tätig sind. Beispielsweise gibt es eine Fachgruppe zur nachhaltigen Chemie oder eine, die sich mit allen Themen rund um Chemie und Energie befasst. Da geht es um die Rolle der Chemie in modernen Energiefragen – alles was mit Batterietechnik, mit Photovoltaik, mit sogenannten solar fuels aber auch mit Energiespeicherung usw. zu tun hat. Die Bedeutung der Chemie für alle diese aktuellen Fragen wird häufig unterschätzt.

VR: War die Grundstruktur vor zwei Jahrzehnten denn schon da? Es ist eine Art Matrix.

Diese Grundstruktur gibt es schon viel länger, eigentlich von Anfang an. Es gab ursprünglich zwei chemische Vereinigungen: die ältere, die 1867 gegründete Deutsche Chemische Gesellschaft und der Verein Deutscher Chemiker, der 20 Jahre später, also 1887 gegründet wurde. Die Deutsche Chemische Gesellschaft war vor allem im akademischen Bereich verortet und hatte eher wenig Mitglieder,

die aus dem Industriesektor kamen. Der Verein Deutscher Chemiker war das Gegenstück, da waren vor allem die Industriechemiker organisiert. Nach dem Krieg sind die beiden zur Gesellschaft Deutscher Chemiker vereint worden. Der Verein Deutscher Chemiker hatte von Anfang an Fachgruppen, thematisch natürlich teilweise anders ausgerichtet, z.B. war die Agrochemie, also Chemie in der Landwirtschaft, damals ein wichtiges Thema. Generell gilt, dass die Neugründung von Fachgruppen nicht von oben vorgegeben ist, sondern es sich in der Regel um „bottom-up-Bewegungen“ handelt. Wenn ein Feld wichtig wird und in der Folge eine ausreichende Zahl von entsprechenden Kolleginnen und Kollegen dort tätig ist, kommt es häufig vor, dass sie sagen, dann wollen wir auch unsere eigene Unterstruktur haben.

VR: Was ist denn die Funktion des Daches?

Es ist zwar richtig, dass die Gruppen ziemlich autonom handeln, sie sind aber rechtlich nicht unabhängig. Die einzige Rechtsstruktur ist der eingetragene Verein der Oberorganisation. Die Fachgruppen sind trotz der Unabhängigkeit, die sie in ihrem eigenen Auftreten häufig zeigen, nicht unabhängig lebensfähig. Am Ende des Tages ist alles Chemie und unsere Fachgruppen sind eben Teile dieser großen Familie.

VR: Wie ist es denn mit den Finanzen? Sie haben an die 30.000 Mitglieder. Geben Sie den einzelnen Fachgruppen jeweils ein Budget, oder wie geht das?

Nein, es ist so: als Mitglied der Gesellschaft zahlen sie einen Mitgliedsbeitrag. Etwa die Hälfte unserer Mitglieder ist noch zusätzlich in einer der Fachgruppen tätig. Die andere Hälfte ist tatsächlich nur in der GDCh als Oberstruktur Mitglied. Mitglieder einer Fachgruppe zahlen zusätzlich einen Fachgruppenbeitrag, der allerdings deutlich geringer ist. Mit diesem „eigenen Geld“ kann die Fachgruppe dann entsprechend agieren. Wobei die übergeordneten administrativen Dinge – wie etwa die Mitgliederverwaltung, Organisation von Tagungen für die Fachgruppen, etc. durch die Geschäftsstelle in Frankfurt erledigt werden. Dafür müssen die Fachgruppen nicht bezahlen. Sie haben durch den eigenen Fachgruppenbeitrag ein zusätzliches Budget, über das sie vollkommen autonom, natürlich immer im Rahmen der Vereinszwecke, entscheiden können.

VR: Gibt es eine Begleitung durch Hauptamtliche?

Wir haben zweieinhalb Mitarbeiterinnen in Frankfurt, die insbesondere für die Fachgruppenbetreuung zuständig sind.

VR: Oh, da müssen die sich aber sputen, allein wenn sie an allen Tagungen teilnehmen wollen…….

Richtig, da ist schon Einiges zu tun, wobei wir auf der anderen Seite auch versuchen, dass möglichst viel über das Ehrenamt in den Fachgruppen geleistet wird. Das klappt eigentlich ganz gut.

VR: Das erinnert an den Jongleur, der an den Tellern entlangrennt, die sich auf Stöcken drehen. Da gibt es wahrscheinlich immer mal wieder sehr lebendige Gruppierungen und dann Gruppierungen, die ein bisschen dümpeln.

Ja, die sind auch von der Größe her sehr unterschiedlich. Unsere größte Fachgruppe, die Lebensmittelchemische Gesellschaft, hat über 3.000 Mitglieder, also zehn Prozent unserer Gesamtmitgliedschaft. Die kleinste Gruppe, das sind die freiberuflichen Chemiker und Inhaber freier unabhängiger Laboratorien, zählt etwa einhundert Mitglieder. Dazwischen gibt es fast alles. Wobei „dümpeln“ tut eigentlich keine unserer Fachgruppen.

VR: Im Organigramm stehen die Unterorganisationen unter „Netzwerk und Strukturen“, das ist eine sehr moderne Begrifflichkeit für eine Sache, die Sie offenbar schon lange in dieser Form machen.

Gerade das Thema Netzwerk ist eines, das von Anfang an eine wichtige Motivation war, eine Fachgesellschaft zu gründen, um sich zu gemeinsamen Themen auszutauschen. Das Wort Netzwerk war damals halt noch nicht so im Gebrauch. Aber hier liegt nach wie vor eine der ganz wichtigen Daseinsberechtigungen für die Gesellschaft Deutscher Chemiker. Wir verstehen uns in erster Linie tatsächlich als Netzwerk von in der Chemie Tätigen oder daran Interessierten.

VR: Was Bau-Chemiker machen oder Leute, die sich für die Geschichte der Chemie interessieren – es ist eine unglaubliche Auffächerung! – kann man sich vorstellen. Aber was machen denn die Ortsverbände?

Ortsverbände bieten in regelmäßigen Abständen chemiewissenschaftliche Vorträge an, insbesondere an den Universitäten. Da gibt es, je nachdem wie aktiv der entsprechende Ortsverband ist, einmal im Monat oder alle 14 Tage ein GDCh-Kolloquium. Dazu werden Kolleginnen und Kollegen eingeladen, einen Vortrag zu halten, der für alle Interessierte offen ist.

VR: Dann gibt es Jungchemiker-Gruppen.

Diese Struktur gibt es seit 1997 mit dem Ziel, insbesondere junge Leute in die GDCh zu führen. Eine wissenschaftliche Fachgesellschaft war von der Historie her früher häufig ein sehr elitärer Zirkel, wo man erst dabei sein durfte, wenn man mindestens einen Doktortitel hatte. Das ist nicht mehr zeitgemäß und es gab die Initiative, auch den jungen Leuten, den Studierenden, die Möglichkeit zu geben, sich zu engagieren. Daraus entstand das Jungchemikerforum, das heute immerhin ein Drittel aller unserer Mitglieder ausmacht – etwa 10.000 unserer Mitglieder ist jünger als 32 Jahre.

VR: Das sind also vor allem Studierende?

Ja, Studierende und Doktoranden und Doktorandinnen.

VR: So kann man zu günstigen Konditionen den Nachwuchs an sich binden.

Ja, seitdem es die Jungchemiker gibt, gibt es eine deutliche Veränderung in der Entwicklung der Mitgliederzahlen. Dadurch, dass wir nun sehr früh mit den Studierenden in Kontakt treten können und die Jungchemiker selber zu ihren Kommilitonen reden können – das funktioniert immer am besten, viel besser als wenn ein Professor um Mitgliedschaft wirbt – haben wir einen deutlich höheren Zulauf an Mitgliedern bekommen. Er stammt hauptsächlich von diesen jüngeren Leuten.

VR: Wie sind denn die verschiedenen Konditionen?

Wir haben mehrere Mitgliedskategorien. Das studentische Mitglied zahlt einen geringen Beitrag von aktuell 30 € im Jahr. Nach dem Studium – d.h. in der Chemie in der Regel nach Abschluss der Promotion – gibt es eine Zwischenstufe für drei Jahre, in der man ein sogenanntes Jungmitglied ist. Da wird der Beitrag etwas angehoben, hat aber noch nicht das Endniveau eines ordentlichen Mitglieds. Dann kann man eben solange Mitglied bleiben wie man will, bzw. wenn man in den Ruhestand geht, haben wir dafür auch entsprechende reduzierte Beiträge, einschließlich der Möglichkeit einer lebenslangen Mitgliedschaft gegen die Zahlung eines Einmalbetrags.

VR: Also Junior, Halb-Senior, Senior, Alt-Senior.

So ungefähr.

VR: Nochmals zurück zu den Ortsverbänden. Kümmern die sich auch um die Werbung für Chemieberufe an den Schulen?

Doch, eigentlich schon. Aber Sie merken schon an meiner Zurückhaltung, dass das nicht immer so gut funktioniert, wie wir uns das wünschen. Natürlich wollen wir auch, dass Ortsverbände versuchen, mit den Schulen entsprechende Verbindungen aufzubauen. Das gelingt manchmal, nicht immer.

VR: Haben Sie Alternativen?

Ja. Zum einen gibt es das Angebot an alle weiterführenden Schulen, die im Abitur Chemie anbieten, dass wir dem oder der besten Chemieabsolventen/-in an dieser Schule einen Preis verleihen, verbunden mit dem Angebot, ein Jahr lang kostenfreies Mitglied unserer Gesellschaft zu werden, Das zweite, was wir im Kontext Schule machen, geht eher an die Lehrer: Zum einen haben wir eine Fachgruppe Chemieunterricht mit über 1000 Lehrkräften und Didaktikern. Zum anderen finanzieren wir, gemeinsam mit dem Fond der Chemischen Industrie, sieben Lehrer-Fortbildungszentren in ganz Deutschland, in denen wir Lehrerinnen und Lehrern die Möglichkeit geben, sich zu aktuellen Themen weiterzubilden. Dadurch schließen wir eine Lücke, da entsprechende Fortbildungsangebote der Länder leider nicht im erforderlichen Rahmen vorhanden sind.

VR: Ich habe mir mal das Covid-Papier ausgedruckt und da gesehen, dass Sie die Forderung aufstellen, dass die naturwissenschaftlichen Fächer Kernfächer bleiben. Und der zweite Punkt ist, dass Sie sagen, dass da ein Zusammenwirken der naturwissenschaftlichen Fächer im Schulunterricht stattfinden soll. Wie weit sind Sie denn mit diesen beiden Forderungen?

Die Forderungen sind ja nicht neu. Wir haben schon sehr lange – übrigens auch wie unsere Schwestergesellschaften aus den anderen naturwissenschaftlichen Fächern – versucht, darauf hinzuwirken, dass die Ausbildung in den naturwissenschaftlichen Fächern an den Schulen zumindest stabil bleibt. Das ist natürlich ein extrem dickes Brett, was hier gebohrt wird, nicht zuletzt weil wir es durch die föderale Struktur nicht nur mit einem Entscheidungsträger zu tun haben. Unser Anliegen war und ist es, dass wir einen durchgängigen Grundunterricht haben, der in Klasse fünf anfängt. Dass wir bisher noch nicht viel weiter gekommen sind, das liegt auch an der Trägheit der entsprechenden Ministerialbürokratien und daran, dass wir mit 16 Kultusministerien in Kontakt stehen müssen. Das ist alles andere als trivial.

VR: Wie stehen wir denn im internationalen Vergleich da?

Bei uns ist es zwar so, dass die Stundenzahlen nicht dem entsprechen, von dem wir glauben, dass es nötig ist. In vielen Ländern ist die Situation der naturwissenschaftlichen Fächer an den Schulen aber z.T. deutlich schwieriger. Wir haben vor allen Dingen noch den Vorteil – wenn ich z.B. nach Großbritannien schaue – dass die meisten Lehrkräfte bei uns auch tatsächlich das Fach studiert haben, das sie in der Schule lehren. Das ist in unseren Nachbarländern häufig anders mit deutlich mehr fachfremd erteiltem Unterricht.

VR: Man liest häufig, in Deutschland seien die naturwissenschaftlichen Fächer gemessen am Bedarf nicht hinreichend beliebt. Klagt man mal gerne oder ist da was dran?

Wenn ich auf mein Fach gucke, ist es nicht so, dass wir jetzt wirklich händeringend nach Studierwilligen suchen. Die Zahl der Studienanfänger in Chemie ist seit Jahren stabil und auf einem vernünftigen Niveau. Es gibt im Moment genug Absolventen. Die Defizite sind eher im nichtakademischen Bereich. Laboranten, Assistenten…..

VR: Wie kann man das erklären?

Ich glaube, es gibt weiterhin genügend Schülerinnen und Schüler, die sich für Chemie interessieren. Ich merke das z.B. bei Berufs-Informationstagen. Allerdings haben viele Interessenten nur wenig Vorstellung davon, was man beruflich als Chemikerin oder Chemiker tatsächlich hinterher macht. Aber das grundsätzliche Interesse ist auf jeden Fall da. Die Berufsaussichten oder die Möglichkeiten, hinterher in dem Beruf auch tätig zu werden, sind momentan relativ gut. Das hat immer auch eine Auswirkung auf die Anfänger. Wenn die wissen, dass sie hinterher einen interessanten und verhältnismäßig gut bezahlten Job kriegen, motiviert das. Wir hatten das auch mal ganz anders: In den frühen 1990er Jahren hat die chemische Industrie aufgrund von wirtschaftlichen Schwierigkeiten zwei/drei Jahre fast niemanden eingestellt. Das haben wir sofort in den Anfängerzahlen gesehen, die massiv eingebrochen sind. Das macht natürlich nur wenig Sinn, denn zwischen Beginn und Abschluss des Studiums liegen etwa zehn Jahre; in der Chemie dauert die Ausbildung länger, weil wir fast alle drei bis vier Jahre Promotion dranhängen. Aber der Effekt war ganz deutlich zu sehen. Ich glaube, die chemische Industrie hat daraus die richtigen Konsequenzen gezogen und in der Wirtschaftskrise 2008, in der es der Branche wirtschaftlich auch nicht so gut ging, dennoch im begrenzten Maß Einstellungen vorgenommen.

VR: Ist die Gesellschaft bei der MINT-Initiative dabei?

Ja! Wir sind an unterschiedlichen Stellen zur Förderung des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts aktiv, so eben auch bei der Initiative MINT-Zukunft Schaffen. Das ist nach wie vor sehr wichtig. Dabei geht es nicht unbedingt darum, dass wir am Ende mehr Chemiker haben wollen, sondern vor allen Dingen darum, dass wir im Kontext der Allgemeinbildung ein besseres naturwissenschaftliches Verständnis erzeugen, um jeden Bürger darauf vorzubereiten, an entsprechenden Diskussionen kompetent teilnehmen zu können. Das ist für mich der wichtigere Teil.

VR: Zeit für eine Zwischenbilanz in unserem Gespräch. Meine Frage war: Was hat sich in den letzten 20 Jahren geändert? Ich habe herausgehört, dass sich von der Grundorganisation her nicht so viel geändert, es hat sich aber differenziert. In der Ansprache junger Chemiker sind Sie sehr erfolgreich. Das ist auch für andere Verbände ein interessanter Hinweis.

Noch etwas: Wir haben seit etwa zehn Jahren am anderen Ende der Alterspyramide ein Angebot aufgebaut, das ebenfalls auf viel Resonanz stieß: unsere Senior-Experten Chemie. Als damals die Idee aufkam, ob wir auf den demografischen Wandel reagieren und unseren Mitgliedern, die nicht mehr aktiv im Berufsleben stehen, ein besonderes Angebot machen wollen, haben wir alle über 65 Jahren angeschrieben. Wir hatten gedacht, dass wir uns mit 20 oder 25 Leuten in unserer Geschäftsstelle treffen. Stattdessen haben wir Hunderte von Rückmeldungen bekommen, alle waren total begeistert von dieser Idee. Wir mussten dann, als wir die Gründungsveranstaltung durchgeführt haben, relativ kurzfristig in die Gebäude der Universität umziehen. Es kamen über 300 Seniorinnen und Senioren, die den Grundstein für die neue Gruppierung gelegt haben.

VR: Ist es bei dem großen Interesse geblieben?

Ja. Die Senioren sind sehr aktiv, machen sehr attraktive Veranstaltungen und engagieren sich sehr. Sie werden nachgefragt als Berater und tun viel für die Schulen und die Kommunikation von chemischen Themen in die breite Öffentlichkeit. So haben sie z.B. einen Pool von Vorträgen von Experten zu bestimmten Themen. Ein Highlight ist immer die etwa alle zwei Jahre stattfindende Tagung der Senior-Experten. Die ist hochattraktiv und behandelt – immer auf hohem Niveau – eher allgemeinere chemiewissenschaftliche Themen, die zu dem heterogenen Zuhörerkreis gut passen. Das hat sich wirklich gut entwickelt.

VR: Wenn ich Sie frage: „Worauf sind Sie besonders stolz?“, würden Sie dann auch die Seniorenarbeit nennen?

Ja, auf jeden Fall! Dass es uns gelungen ist, sowohl was die demografische Dimension angeht, also den Jüngeren und den Älteren Angebote zu machen, als auch was die fachliche Dimension angeht, auf der Höhe der Zeit zu bleiben, ist ein Grund, stolz zu sein.

VR: Mit dem VAA, dem Führungskräfteverband der angestellten Akademiker in der chemischen Industrie, hat die Gesellschaft eine besondere Verabredung.

Ja, wir haben seit mehr als 10 Jahren das Angebot einer Doppelmitgliedschaft, d.h. wenn sie – vor allen Dingen gilt das für die Studierenden – als Studierende Mitglied der GDCh werden, können sie ohne Aufpreis gleichzeitig Mitglied des VAA werden. Der Hintergedanke war damals, dass beide Organisationen von diesem Angebot profitieren: Für den VAA bedeutet es einen besseren Zugang zu den Studierenden, schließlich interessiert man sich am Anfang eines Studiums noch nicht so sehr für einen Berufsverband bzw. Gewerkschaft und für uns war die Triebkraft, die Zahl der Austritte beim Übergang vom Studium zum Beruf zu verringern. Viele Berufsanfänger meinen, im Beruf sei der Kontakt zur Wissenschaft nicht mehr so relevant und es bildet sich eine Konkurrenzsituation zum VAA heraus. Wir haben mit dieser Kombination versucht, dem entgegen zu treten. Das ist ein Modell, das bislang gut funktioniert.

VR: Gibt es gemeinsame Vorhaben mit dem VAA?

Ja. Vor allem sind das Veranstaltungen an den Universitäten, wo wir gemeinsam über Berufsmöglichkeiten und über berufsspezifische Fragen informieren. Die Partnerschaft hat sich bewährt.

In der Chemie gibt es noch mehr Organisationen und alle, die Gewerkschaft eingeschlossen, arbeiten erstaunlich kooperativ zusammen. Stimmen Sie dieser Beobachtung zu?

Ich würde dies sogar als ein Alleinstellungsmerkmal unserer Branche bezeichnen. Angefangen mit der Berufsgenossenschaft, über die Sozialpartner Arbeitgeberverband BAVC und die Gewerkschaften IGBCE und VAA, dem Verband der Chemischen Industrie (VCI) bis hin zu den wissenschaftlichen Organisationen wie uns, der Gesellschaft Deutscher Chemiker, der Bunsen-Gesellschaft für Physikalische Chemie oder der DECHEMA. Es gibt immer wieder Situationen, wo wir alle eng zusammenarbeiten, vor allem wenn es um Fragen zur Ausbildung und zum Studium geht, aber auch bei wissenschaftlichen Themen. Es gibt z.B. gemeinsame Positionspapiere zur Rolle der Chemie für eine Energiewende oder zur Materialforschung, an denen sich auch der VCI beteiligt hat, usw. Das zeichnet uns schon aus. Ich kenne kaum Beispiele, in denen z.B. die IG Metall und der Arbeitgeberverband Gesamtmetall mit dem VDI an einem Tisch sitzt. Das sind einfach andere Kulturen.

VR: Hat einer da den Hut auf oder geht das reihum?

Das geht eher reihum.

VR: Gibt es dabei eine Struktur oder ist geschehen die Treffen anlassbezogen?

Man kennt sich und es gibt eine informelle Struktur. Man trifft sich nicht regelmäßig, sondern eher aus einem bestimmten Anlass. Wir versuchen, dass wir uns wenigstens einmal im Jahr zusammensetzen. Ganz besonders stark war die Zusammenarbeit, als wir im Jahre 2003 das vom BMBF ausgerufene Jahr der Chemie hatten. Das wurde federnführend koordiniert durch uns, aber alle anderen Organisationen waren immer mitbeteiligt. Dann gab es vor einigen Jahren das von den Vereinten Nationen ausgerufene internationale Jahr der Chemie. Auch da waren wieder alle dabei. Es ist wirklich sehr beeindruckend zu sehen wie z.B. die IGBCE und der BAVC, aber auch die anderen Organisationen bei diesen Themen einmütig beisammen sind. Fast alle dieser Organisationen sind auch unterstützende Mitglieder der GDCh, d.h. wir haben auch eine entsprechende strukturelle Vernetzung.

VR: Warum klappt Kooperation in der Chemie?

Jetzt könnte ich sagen, weil wir die Vernünftigsten sind, aber das werden andere vielleicht anders sehen. Einen Grund, warum sich das bei uns in dieser kooperativen Art herausgebildet hat, kann ich Ihnen nicht genau sagen. Allerdings war es in der Chemie schon immer so, dass Industrie und akademische Wissenschaft eng zusammengearbeitet haben. Aber die Chemie zeichnet sich ja auch bei Tarifauseinandersetzungen durch Vernunft und Zurückhaltung aus – ohne, dass deswegen die Gehaltsentwicklung hinter anderen Branchen zurücksteht.

VR: Befürchtet niemand, dass bei enger Zusammenarbeit gefragt wird, braucht man denn so viele Organisationen?

Nein. Zum einen hat jede Organisation einen ganz klaren Fokus. Der Verband der Chemischen Industrie ist ein Wirtschaftsverband und eine Lobbyorganisation. Wir dagegen sind das definitiv nicht, wir kommen uns da nicht ins Gehege. Auf der anderen Seite müssen wir immer darauf achten, dass wir, wenn wir mit dem VCI Dinge zusammen machen, dies vor unserem Hintergrund tun, die Unterscheidbarkeit also bleibt. Warum macht ein VCI etwas und warum machen wir etwas? Unsere Aufgabe ist die Förderung der Wissenschaft in der Chemie, die des VCI die Vertretung der Interessen der Chemieindustrie, so etwa die Sicherstellung von genügend gut ausgebildeter Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Das sind unterschiedliche Motivationen, die aber häufig zu den selben Schlussfolgerungen führen.

VR: Als Berufsverband möchten Sie nicht bezeichnet werden?

Überhaupt nicht! Die Gesellschaft Deutscher Chemiker ist eine gemeinnützige wissenschaftliche Fachorganisation. Wenn Sie in unsere Satzung gucken: der alleroberste Satzungszweck ist die Förderung der Wissenschaft im Fach Chemie. Da steht nichts von Chemikerinnen und Chemikern drin, sondern das Fach steht im Vordergrund. Und als gemeinnütziger Verein geht das auch gar nicht anders: Wir sind nicht nur unserer eigenen Klientel, sondern auch der Allgemeinheit verpflichtet. Da unterscheiden wir uns grundsätzlich von einem Berufsverband.

VR: Also lieber Gesellschaft als Verband?

Wir mögen das Wort „Verband“ nicht so gerne, weil ein Verband als eine von Partikularinteressen gesteuerte Organisation verstanden wird. Die muss es geben, ich will nichts Schlechtes darüber sagen, nur wir gehören eben nicht dazu.

VR: Eine Organisation, die sich um die Entwicklung der Chemie als Wissenschaft kümmert, hat die im Kern eine Professorenausrichtung?

Nicht alle Chemiker, die an der Hochschule studiert haben werden am Ende Professoren, die große Mehrheit geht in die Industrie oder arbeitet in anderen Bereichen. Ein großer Teil unserer Mitglieder sind Industriechemiker. Aber es ist nach wie vor so, auch in der Außenwahrnehmung, dass wir als eine akademisch dominierte Organisation gesehen werden. Wir bemühen uns im Moment intensiv darum, dieses Klischee ein bisschen zu relativieren und zu versuchen, unseren Kolleginnen und Kollegen in der Industrie mehr das Gefühl zu vermitteln: auch wenn ihr die Hochschule verlasst, die GDCh ist nach wie vor eine wichtige Organisation für euch und wir können euch auch im Berufsleben vielfältig unterstützen.

VR: Also behutsam öffnen, ohne den Ursprungskern zu verletzen?

Auf jeden Fall war die Öffnung für weitere Zielgruppen in den letzten Jahrzehnten ein wichtiges Thema. Als ich Mitglied der GDCh wurde, war es noch so, dass jedes neue Mitglied zwei Bürgen brauchte. Damals konnte man nur Mitglied werden, wenn man eine universitäre Chemieausbildung hatte oder sie gerade machte. Das ist mittlerweile alles nicht mehr so. Heute kann jeder, der sich mit den Zielen der GDCh identifiziert und sie unterstützen möchte, Mitglied werden. Auch gegenüber Absolventen, die nicht von der Universität kommen, haben wir uns schon länger geöffnet. Das sind zum einen natürlich die Fachhochschulabsolventen, aber auch Chemiker und Chemikerinnen aus den nichtakademischen Berufen. Wir wollen für ausnahmslos alle, die in der Chemie tätig sind oder sich dafür interessieren, ein zu Hause bieten.

VR: Das ist eine Gratwanderung zwischen Exzellenz und Größe, oder?

Ja klar! Damals, als die Diskussion um eine Öffnung begann, gab es auch Stimmen, die gesagt haben: unser exklusiver Charakter zeichnet uns aus. Auf der anderen Seite – und das sehen wir nicht nur bei uns, das gilt auch für viele vergleichbare Organisationen – ist es so, dass die Zahl der Mitglieder ein wichtiges Argument ist. Wenn man versucht, mit politischen Entscheidungsträgern ins Gespräch zu kommen und sagt: ich vertrete 30.000 Chemikerinnen und Chemiker in diesem Land, hat man natürlich ein anderes Gewicht, als wenn das nur 5.000 wären. Wir haben den Anspruch, in der politischen Meinungsfindung eine sichtbare Rolle zu spielen. Dafür brauchen wir das entsprechende Gewicht.

VR: Spielen nicht auch die Finanzen eine Rolle?

Das ist ein ganz wichtiger Aspekt, die Finanzen müssen natürlich stimmen. In unserem Fall ist es so, dass die Dinge, die wir im ideellen Bereich machen, um unsere Satzungszwecke durchzuführen, hochdefizitär sind. Wir können uns das nur leisten, weil wir an anderen Stellen Einnahmen generieren, die das dann kompensieren können.

VR: Was haben Sie denn an Einnahmen außer den Mitgliedsbeiträgen?

Die GDCh ist Eigentümerin und Miteigentümerin von zahlreichen renommierten Fachzeitschriften. Für die Verpachtung der Rechte an den Zeitschriften an unseren Partnerverlag Wiley-VCH erhalten wir Erlöse. Auch hat die GDCh das große Glück, dass wir über ein verhältnismäßig bequemes Vermögen verfügen, d.h. ein weiterer signifikanter Teil unserer Erlöse stammt aus Finanzanlagen.

VR: Im Moment nicht so einfach, vermute ich, die Erträge zu erwirtschaften.

Die Zeiten heute sind tatsächlich nicht mehr so einfach wie sie noch vor 10 Jahren waren.

VR: Zur Ihrer Vita, Herr Professor Koch: Sie waren Chemieprofessor und sind dann in einen Wechsel gegangen zwischen Forschungsministerium und Verband, bis Sie schließlich beim Verband Ihre vermutliche Dauerstellung bekommen haben.

Mein Vertrag ist tatsächlich kein unbefristeter, sondern als Geschäftsführer bin ich jeweils auf fünf Jahre bestellt. Aber es gab in der Geschichte der GDCh, die immerhin bald 75 Jahre alt ist, nur vier Geschäftsführer, also drei vor mir, d.h. wir haben eine ziemlich lange Verweildauer und müssen nicht Sorge haben, dass man nach drei Jahren schon wieder gehen muss.

VR: Was hat Sie denn gereizt an diesem Übergang?

Ich sage es Ihnen ehrlich: Als ich mich für die GDCh entschieden habe, wusste ich nicht genau, worauf ich mich einlasse. Ich war, bevor ich Professor an der TU Berlin wurde, mehrere Jahre in den USA und dann in Deutschland als Wissenschaftler bei der Computerfirma IBM beschäftigt, hatte also eine Industrielaufbahn eingeschlagen. Dann wollte ich mal was anderes machen und hatte das große Glück, dass diese Professur in Berlin sehr gut auf mich gepasst hat. Ich habe Lehre und Forschung gerne und auch nicht ohne Erfolg betrieben, doch nach einigen Jahren kam wieder diese Unruhe auf, etwas Neues probieren zu wollen. Da hatte ich wieder Glück, dass sich eine interessante Stelle bei der Gesellschaft Deutsche Chemiker in Frankfurt auftat. Allerdings hat dieser Wechsel in meinem persönlichen Umfeld auch Unverständnis hervorgerufen, denn als auf Lebenszeit verbeamteter Professor hat man eigentlich ein ganz gutes Leben. Ich habe mich trotzdem dagegen entschieden, was unüblich ist.

VR: Bereuen Sie den Schritt?

Nein, wenn dann nur ganz selten. Die Tätigkeit, die ich jetzt ausübe, bringt jeden Tag etwas Neues. Vor allen Dingen bin ich mit Sachen konfrontiert, die ich mir vorher nicht vorstellen konnte. Es ist letztlich wie ein kleines Unternehmen zu führen. Wir haben über 50 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in Frankfurt und ich habe Verantwortung für unsere ca. 30.000 Mitglieder, um die meine Mitarbeiter und ich uns kümmern, damit sie der GDCh treu bleiben und jedes Jahr gerne ihren Mitgliedsbeitrag überweisen.

VR: Was ist eigentlich das Spannende an Ihrem Job?

Wir haben auf der einen Seite viel zu tun mit anderen Organisationen in der Chemie, aber andererseits auch mit anderen wissenschaftspolitisch engagierten Gruppierungen und mit politischen Entscheidungsträgern. Dazu kommt der intensive Kontakt mit vielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus dem gesamten Spektrum der Chemie. Vorher, als ich noch selbst aktiver Wissenschaftler war, hatte ich nur meine kleine Teildisziplin gekannt, diese allerdings sehr gut. Ich hätte damals weder Gelegenheit noch großes Interesse gehabt mit, z.B., einem Patentanwalt in der Chemie zu reden. Heute passiert das. Das macht es spannend und interessant und ist eine ganz andere Tätigkeit als die eines Hochschullehrers. Natürlich vermisse ich manchmal meine alten Job, denn ich habe gerne Lehre gemacht, gerne mit Studierenden zusammengearbeitet und habe auch gerne Forschung betrieben. Das geht heute nicht mehr. Aber man kann auch nicht alles haben!

VR: Verbandsmanager können mit nahezu jedem reden. Denn was ist kein tatsächliches oder potentielles Verbandsthema?

Richtig! Und es kommt ständig Neues, man muss ständig in Bewegung bleiben. Und man hat auch die wirklich sehr interessante Möglichkeit, viele Leute kennen zu lernen, auf die man sonst nicht gestoßen wäre. Beispielsweise habe ich nun viel Kontakt mit Industriechemikern, etwa bei uns im Vorstand. Die Hälfte unseres Vorstands stammt aus der Industrie, das sind alles wichtige Leute in ihren Unternehmen, mit denen ich mich gerne austausche. Gleiches gilt für Vertreter anderer wissenschaftlicher Disziplinen, die oft eine andere Wahrnehmung von Dingen haben. Das alles ist sehr bereichernd.

VR: Zum Abschluss, was sind Ihre aktuellen wichtigsten Herausforderungen, bzw. die der GDCh?

Das schnell zu beantworten ist schwierig und würde eigentlich ein eigenes Gespräch erfordern. Stichwortartig : Erstens, Digitalisierung. Das bezieht sich auf unsere Veranstaltungen, aber auch auf die Art wie wir mit unseren Mitgliedern kommunizieren. So entwickeln wir zur Zeit eine App, um unseren Mitgliedern diese neuen Wege der Kommunikation zu ermöglichen. Zweitens, Internationalisierung. Wir kümmern uns sehr intensiv darum, die GDCh für Chemiker/-innen aus dem nicht-deutschsprachigen Raum attraktiv zu machen und auch im globalen Kontext eine wichtigere Rolle zu spielen. Und drittens wollen wir schließlich unsere Bedeutung in der Öffentlichkeit stärken. Unser Ziel ist, auch für Nicht-Chemiker als die kompetente und unabhängige Vertretung der Chemie sichtbar zu sein.

VR: Vielen Dank!

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