Einige Bemerkungen zu 30 Jahren Wiedervereinigung
Blog 241, Oktober 2020
Guten Tag,
vor 30 Jahren geschah die Wiedervereinigung. Ich bin sehr froh über unsere rotarische Heimataktion „Thüringen trifft Hessen“. Trotz pandemischer Behinderung finden eine Reihe von Veranstaltungen von Club zu Club statt. Der Blick geht also mal wieder dahin, wo er in der Schlussphase der DDR und in den ersten Jahren der Wiedervereinigung immer wieder hinging: von Hessen nach Thüringen. Hessen hat geholfen, auf allen Ebenen. Damals haben sich Freundschaften entwickelt. Karola, die mit ihrer Familie aus Gotha -über die Frankfurter Bettenbörse vermittelt- an einem der ersten freien Wochenenden zu uns kam, und ich haben den Kontakt seitdem nicht abreißen lassen. Aber klar ist auch: Solche Beziehungen brauchen Investment an Zeit und gutem Willen. Auch Neuanfänge wären wichtig. Das gilt für alle persönlichen Beziehungen, aber auch für Partnerschaften von Städten und Organisationen
Heute wird in Reden und auch in Bürgerstatements in den Medien aus Anlass des Jubiläums betont, die ostdeutsche Befindlichkeit sei nicht hinreichend gewürdigt worden. Damals, als sich die Chance der Wiedervereinigung abzeichnete („Wir sind das Volk“ wurde zu „Wir sind ein Volk“) hatten nur Privilegien-Besitzer aus der DDR-Elite zu klagen. Auch diejenigen aus der Bürgerbewegung der DDR, die zusammen mit weiten Teilen der Sozialdemokratie im Westen gern eine andere Form der Wiedervereinigung gehabt hätten, beispielsweise über die Diskussion einer gemeinsamen Verfassung, haben damals ihre Wünsche zurückgestellt.
Nicht nur Volkes Wille ging vor, sondern auch die Angst, Gorbatschow könnte kippen und die unumgängliche Freigabe des Wiedervereinigungsprozesses durch die Sowjetunion damit auch, trieb zur Eile an. Es stimmt schon, die Transformation von der sozialistischen Planwirtschaft in eine soziale Marktwirtschaft forderte von den ostdeutschen nunmehr Mit-Bürgern, eine über vier Jahrzehnte andauernde Veränderung im Westen nun in wenigen Jahren nachvollziehen zu müssen. Und dies bei existenziellen Unsicherheiten in jeder Familie.
Heute ist schwer zu entscheiden, was an geäußerter Unzufriedenheit real gefühlt und was funktional ist. Wer nicht jammert, wird auch nicht berücksichtigt, so ist das im Wettbewerb der Interessen. Dabei kann es allzu leicht geschehen, dass sich die persönliche Befindlichkeit von der vermuteten gesellschaftlichen Befindlichkeit deutlich unterscheidet. Um es schlicht zu sagen: Mir geht es gut, aber wenn alle sagen, den anderen geht es nicht so gut, dann muss es wohl stimmen.
Es stimmt aber nicht. Wenn beispielsweise über ungleiche Einkommensverhältnisse geklagt wird, so ist dies so lange nicht überzeugend, solange nicht die Betrachtung der Ausgabenseite mit einbezogen wird. Aber was heißt funktional? Es gibt Jammer -Nutznießer, zu denen nicht nur Parteien und Interessenverbände, sondern auch die Medien gehören, weil sie von derr Abweichung profitieren, nicht von der Normalität.
Das alles bedeutet aber nicht, dass es nicht Gründe zur Unzufriedenheit gibt. Aber was ist entscheidender als Grund der Unzufriedenheit, der Ost-West oder der Land-Stadt Gegensatz? Wenn es stimmt, dass auf der politischen Agenda die Stadt dominiert, dann lassen sich wohl mehr Übereinstimmungen zwischen Ost und West feststellen, beispielsweise aus Sicht von Bürgermeistern von Überalterung und Abwanderung geplagter Kleinstädte und Dörfer abseits des Magnetismus von Großstädten.
Was als Frage bleibt, ist die nach der unterschiedlich ausgeprägten Anfälligkeit in der Bevölkerung für autoritäre Orientierungsangebote: „Mehr Führung, weniger Freiheit und das ist gut so“. Freiheit zwingt dazu, zwischen Optionen zu wählen. Wahrscheinlich muss man das trainieren und ein halbes Jahrhundert Abtrainierung zeitigt Folgen.
Mit herzlichen Grüßen
Henning v. Vieregge