Goldabiturient 1916-2066

19 Jun
19. Juni 2016

Blog 123/ Juni 2016

Guten Tag,

Abiturfeier Leibnizschule Hannover am 16.6.2016: Wer eingeladen wird zur 50. Wiederkehr seines Abiturs, kommt unvermeidlich ins Grübeln. „Wir sind ja ein richtiger Nachkriegsjahrgang“, sagt einer, als hätte er eine Neuigkeit entdeckt.  Wir, das sind  die zwischen 1946 und 1948  geborenen, die letzten Jahrgänge von bescheidener Aufmüpfigkeit, bevor die 68er Bewegung die Schulen erreichte. Reinhard Kurz, Mit-Goldabiturient, sieht uns in der Rückschau so: „ Die meisten von uns arbeiteten sich wohl in der Mittelstufe schlichtweg an den autoritären Köpfen ihrer Lehrer mit mehr oder weniger erfindungsreichen Jungenstreichen ab –sozusagen in der literarischen Tradition der Werke von Musil, Torberg, Wedekind etc. So sind wir schulisch aufgewachsen mit Menschenleben, wie sie uns  im Sturm der Studentenbewegung kaum noch begegneten.“ Mit Lehrern, von denen keiner unversehrt an Körper und Seele war. Die uns, wenn sie dazu einen Anlass sahen,  ohrfeigten, mit Hausschlüsseln und Tauen schlugen, in Papierkörbe versenkten. Dies alles  aus erlernter Erzieherbrutalität oder erlittener Lebensverzweiflung, wie wir erahnten und nicht unterscheiden konnten.
Dr Horst Berkowitz1


Wenige waren wie unser Deutsch- und Geschichtslehrer Dr. Ernst Hagemann. Der scheute  auch die Auseinandersetzung mit dem 3. Reich nicht und  lehrte uns Anti-Totalitarismus und Veränderungsbereitschaft auf durchaus autoritäre Art und Weise, mit großem Wissen und tiefer persönlicher Erfahrung. Unvergesslich der Wutausbruch des Schwerkriegsverletzten über einen Hitler, der doch tatsächlich als junger Mann erklärt hatte, sich nun nicht mehr verändern zu müssen, weil er wisse, wer er sei und was er wolle. „Die Römer waren am Arsch, als sie den Limes bauten. Wer sich nur noch verteidigt, verliert“, lautete ein weiterer von Hagemanns Sätzen, die uns als kondensierte Lebensweisheit unauslöschlich begleiten.

Wir fanden unsere Lehrer in Ordnung und wenn nicht, dann kurios und somit keines grundsätzlichen Protestes wert. Vielleicht saß uns Schülern das Grauen von Krieg, Naziherrschaft, Flucht und Hunger doch tiefer in den eigenen Knochen als wir ahnten.

1966, unser Abi-Entlassjahr, war 21 Jahre nach Ende des 2. Weltkriegs. Abi-Scherze gab es damals nicht, Albernheit reichlich und uns beflügelte bei allem ein so nie wiederkehrender, wunderbarer  Mix aus Weltoffenheit und Vitalität. Aber auch ängstliches Rechnen der Geschichtsbewussten unter uns: Genau 21 Jahre lagen zwischen dem Ende des 1. und Anfang des 2. Weltkriegs. Würden wir wieder in den Krieg ziehen müssen wie unsere Großväter, die teilweise in beide Weltkriege mussten, oder unsere Väter, auch sie von den Zeitläufen angeschlagen, weil zum falschen Zeitpunkt in die Welt gesetzt,  und uns selten ein ebenbürtiger Gegner in unseren pubertären Jahren?

Auch bei unserer Abifeier wurden die Goldabiturienten geehrt. Ich erinnere mich nur an einen Krüppelhaufen uralter Männer. Und finde in unserer Schülerzeitung von damals, was ich suchte: mein Interview mit einem Goldabiturienten von damals, Dr. Horst Egon Berkowitz., Rechtsanwalt, Jude, im 1. Weltkrieg schwer kriegsverletzt, gleich nach dem Kriegsabitur im November 1915 in Frankreich. Bein- Bauch- und drei Kopftreffer, rechte Hand verstümmelt, rechtes Auge verloren, trug Schutzkappe über der offenen Schädelwunde und einen Hörapparat, weil der Schuss ins Auge hinter einem Ohr wieder herauskam. Generalfeldmarschall v. Mackensen habe ihn aus dem KZ Buchenwald herausgeholt, weil er sich an ihn als jüngsten Soldaten erinnerte. „Fast alle Verwandten und Bekannten wurden umgebracht. Auch unser Kindchen“, sagte Berkowitz im Interview. Und erzählte vom Heute: Wenn er vor Gericht gehe, pflege er zu seiner Schwester, mit der er zusammenwohne, zu sagen: „Ich gehe in die Ferien“. Denn es gebe nichts Schöneres als das Eintreten für Recht, Gesetz und Ordnung. Nur am Sonntag widme er sich, so erzählte er, seinen Hobbies Briefmarken und Münzen. Das sei der Vorzug im Alter, man könne dann alles abstoßen, was einem nicht gefalle und sich dem zuwenden, was man liebe. Als Schlusssatz notierte ich einen Satz von Horst Egon Berkowitz, dessen Bedeutung mir nun nach 50 Jahren in seiner Tiefe bewusster wird: „Leben heißt, das Fehlende und das Verlorengegangene durch etwas Anderes zu ersetzen.“  Ein Satz des Interviewers von damals hat sich in jedem Fall als wahr erwiesen: „Vor mir steigt ein Menschenleben auf, wie es mir selten wieder begegnen wird.“ (Quelle Der Leibnizer Nr.2/1965, s. auch den Wikipedia-Eintrag)

Unserer Generation blieben Heldentod und Verstümmelung erspart. Wir hier in (West)Deutschland wurden, schaut man in die Vergangenheit und schaut man in der Gegenwart über alle Grenzen, unter der Glückshaube geboren. Inwieweit wir unsere Lebens-Sache gut gemacht haben werden, entscheiden unsere Kinder und Kindeskinder.

Was werden die Schülerinnen und Schüler des  Abiturjahrgangs 2016 erlebt haben, wenn sie 2066  als Goldabiturienten an die Schule zurückkehren? Man möchte ihnen raten, die Vision ihrer nächsten 50 Jahre, eingebettet in die Vision von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft hierzulande und weltweit, jetzt aufzuschreiben, einzeln und als Gruppe.  Und fortan alles zu tun, damit sie ihre Wünsche leben können.

 

Mit besten Grüßen

Henning v. Vieregge

 

 

 

 

 

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