Zwei Geschenke für kluge Köpfe und eine Filmempfehlung

13 Dez
13. Dezember 2014

78/ Dezember 2014 Guten Tag,

Ein Film, ein Buch, ein Hörbuch möchte ich empfehlen.

Der Film „Labyrinth des Schweigens“, ein deutscher Film, ist sehr empfehlenswert für alle , die einen spannend gemachten Film zur Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit in der Nachkriegszeit sehen wollen. Hier geht es um den Auschwitz-Prozess, genauer: um dessen Vorgeschichte. Der Film endet,wenn die beiden Staatsanwälte, die den Prozess vorbereiteten (in Wirklichkeit waren es drei), den Gerichtssaal zum Auftakt des Prozesses betreten. Der hessische Generalstaatsanwalt Bauer, ein Jude, der im Exil überlebt hatte, gespielt vom famosen Burgschauspieler Gert Voss, der kurz danach starb, prägte den Satz, wenn er sein Büro verlasse, betrete er feindliches Terrain. Er war mit seinem Anliegen, die Verbrechen des Dritten Reiches gehörten aufgearbeitet und abgeurteilt, ziemlich allein auf weiter Flur. Der Auschwitzprozess  kam gegen den breiten Widerstand der Richterschaft, des Bundeskriminalamts, der Politik und der Medien zustande. Das ist heute kaum zu verstehen. Aber der Auschwitzprozess war eben eine Wende, so wie es Bauer erhofft hatte.  Bis dahin galt verbreitet: die Schuldigen sind in den Nürnberger Prozessen verurteilt, die Entnazifizierung hat stattgefunden, und nun soll man die Vergangenheit ruhen lassen und einen Schlussstrich ziehen. Ausgangspunkt der Wende  war ein Dossier, das ein Reporter der Frankfurter Rundschau von einem ehemaligen Häftling bekam und in dem die Namen von Auschwitz SS Leuten aufgeführt waren, die Häftlinge, wie es hieß, auf der Flucht erschossen hatten. Die Aufgabe bestand nun darin,  den einzelnen Auschwitztäter als aktiven, aus eigenem Antrieb gehandelt habenden Täter zu überführen. Dazu bedurfte es genauer glaubwürdiger Zeugenaussagen. Ein ungeheuer aufwendiges Verfahren in der Vorbereitung, weil die zuständigen Ämter, wie gesagt, jede Zusammenarbeit verweigerten. Ja, es musste befürchtet werden, dass sie aufgespürte Täter sogar noch warnten. Das Ergebnis war, wie Bauer es vorausgesehen hatte:Auschwitz war nicht länger eine Erfindung der Allierten, die SS-Wachmannschaften nicht länger harmlose Menschen, die nur ihre Pflicht getan hatten, die Geschichte nicht länger bewältigte Vergangenheit. Dafür, folgt man dem Film, opferte Bauer sogar die Möglichkeit, Mengele, der in Argentinien aufgespürt worden war, zu fassen. Die Israelis schnappten sich zur gleicen Zeit auf Tipp von Bauer Adolf Eichmann, der wie Mengele auf der Rattenlinie nach Argentinien entkommen war, und brachten ihn nach Jerusalem zu einem Prozess, bei dem der Holocaust, die Verfolgung und Vernichtung der Juden, Land für Land aufgerollt wurde, übrigens mit dem gleichen Ergebnis wie in Deutschland. Auch in Israel hörte man fortan die Opfer an, nahm deren Leiden, die zuvor  nicht wirklich geglaubt worden waren, fortan ernst und ordnete sie in die israelische Genese ein.

In Deutschland trug der Auschwitzprozess  dazu bei, dass die kleine Kulturrevolution der 68er stattfand. Dass was die Elterngeneration verhindern wollte, brach nun mit Wucht und Ungerechtigkeit auf. Wie im Film bei dem jungen Staatsanwalt, den Bauer mit der Untersuchung beauftragt hatte: Er dreht durch und hielt jeden und jede für einen üblen Nazi, hatte seinen Gerechtigkeitskompass verloren, endgültig nachdem sein geliebter Vater, vermisst, sich ebenfalls als belasteter Nazi herausstellte. Dass die 68er Politspitze sich dann rasch von der Nazivergangenheit ab- und dem USA-Unrecht in Vietnam zuwandte, bis hin zu ungeheuerlich skandalösen Gleichsetzungen, ist eine andere Geschichte.

Das Buch, das ich empfehle, hat den schön doppelsinnigen Titel „Achtung vor dem Bürger„. Rupert Graf Strachwitz hat es geschrieben, und es ist eine Art Ernte von vier Jahrzehnten ehren- und hauptamtlicher Arbeit des Autors in der Zivilgesellschaft, die diesen Namen samt der Herausstellung als eigenes Subsystem (Strachwitz spricht lieber von „Arena“) neben Politik und Wirtschaft erst seit ungefähr der Hälfte der Zeit trägt. Strachwitz, Direktor des Maecenata Instituts für Philantropie und Zivilgesellschaft, Berlin, gehört nicht zu jenen, die vor dem Bürger warnen, sondern im Gegenteil auf 236 Seiten Taschenbuch ein, wie es im Untertitel heißt, „Plädoyer für die Stärkung der Zivilgesellschaft“ halten.

Zivilgesellschaft? Begriff und Anliegen sind in der hiesigen politischen Klasse weitgehend weiße Flecken. Das wurde mir neulich wieder klar, als ich einem Vortrag des von mir geschätzten Nikolaus Blome, Mitglied der Geschäftsführung des SPIEGEL und Leiter der Berliner Redaktion, und die nachfolgende Diskussion verfolgte. Es ging um die Politik der großen Koalition. Blome spricht von Vertrauen, das die Politik reklamiere. Die Regierung sei bei den Bürgern so beliebt wie lange keine und die Kanzlerin toppe das Ergebnis nochmals. Es gebe kein Gefühl von Krise und nur bei Krise verändere sich etwas. Das Wort „Zivilgesellschaft“ fällt am ganzen Abend nicht. Die auch jungen Teilnehmer, ausgestattet mit Eliteanspruch, scheinen dieses Wort nicht zu  kennen und vor allem nicht die Aufforderung aus diesem Konstrukt: „Dann nehmen wir das mal in die Hand und machen Druck. Wir lassen uns von der Politik nicht unsere Zukunftschancen weiter verbauen“, wäre ja die naheliegende Aussage. Nichts davon. Es wurde geklagt und gejammert „über die da oben“ und über die Kanzlerin trefflichst psychologisiert.  Ist die Idee der Zivilgesellschaft mit ihren Merkmalen wie selbstermächtigt, selbstorganisiert, selbstverantwortlich, bottom-up und Funktionen wie Wächter, Themenanwalt usw wirklich noch nicht angekommen? Unterliegen   die Anhänger eines zivilgesellschaftlichen Ansatzes einer gewaltigen Illusion?

Die Rückseite des Strachwitz-Buches  ziert ein Graffitti mit dem Text „Was tut das Volk? Es volkt nicht!“ Das ist eine schöne Steilvorlage für den Verfasser.   Das Studium der 236 Seiten lässt uns an manchen Stellen innehalten und Anschlussfragen stellen. Dies ist ein Vorzug eines Textes: Er scheut nicht vor klaren Aussagen, ja auch nicht vor zornigen Ausfälligkeiten gegen Staatslangweiligkeit („burn-out“) und Staatsanmaßung wie die Einteilung in gute und schlechte Ehrenamtler durch die politische Klasse, aber auch gegen Fehlentwicklungen und Dreistigkeiten innerhalb der Zivilgesellschaft. Strachwitz nimmt konsequent die Position des Individuums ein, das sich nützlich machen will so gut es kann und dabei auf Chancen und Hindernisse stößt.

Der Ausgangspunkt der bundesdeutschen Debatte über Zivilgesellschaft lässt sich markieren: Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts hatte einer der führenden amerikanischen Forscher von bürgerschaftlichem Engagement,  Robert D. Putnam, einen Aufsatz unter dem Titel „Bowling alone“  geschrieben, also sinngemäß „Allein im Sportstudio.“ Während der Aufsatz noch diskutiert wurde, bemerkte Putnam eine Veränderung, die im Untertitel des dann gleichnamigen Buches Bowling Alone ihren Niederschlag fand „The Collapse and Revival of American Community.“ Auf einmal war also nicht mehr nur vom Kollaps, vom Zusammenbruch der Gemeinschaft die Rede, sondern auch von deren Wiederbelebung.

Es könnte ja sein, dass beides gleichzeitig passiert. Dann gilt die Aussage, wir  leben in zusammenbrechenden und aufblühenden bürgerschaftlichen Strukturen zugleich so wie wir es im Markt als gegeben und wünschenswert beobachten.  Auch in der Zivilgesellschaft kennt man Schübe. Hatte es um die Jahrhundertwende vom 19. In das 20. Jahrhundert eine Gründerzeit von Vereinen und Initiativen gegeben, Rotes Kreuz, Pfadfinder, Sportvereine, Serviceclubs wie Rotary und Lions usw., so erleben wir hundert Jahre später, eine neue Gründerzeit, dieses Mal von NGOs, Stiftungen, Bürgerinitiativen usw., , on- und offline. Und wieder wird aus den alten Organisationen, ich nenne Kirchen, Parteien, Gewerkschaften, Vereine, über angeblich nachlassende Engagementbereitschaft geklagt, einzelorganisatorisch vielleicht zu Recht, insgesamt zu Unrecht.

Wir sind im Moment weit davon entfernt, die vielen Aktivitäten und Initiativen der Freiwilligen in einer politisch ausgerichteten Bewegung gebündelt zu sehen.

Noch ist die Freiwilligenbewegung weitgehend vereinzelt, Bürgermacht ist nicht organisiert. Im Staat ist die Position zur Zivil- und Bürgergesellschaft uneinheitlich. Zivilgesellschaft wird von unseren Politikern gern gepriesen, wenn man sie weit weg vermutet: in Tunesien oder Südafrika, der Ukraine usw. Aber schon am Beispiel der Ukraine lässt sich verdeutlichen, was PEGIDA gerade hierzulande verdeutlicht: Bürgerbewegungen sind kein Privileg der liberalen oder linken Gruppierungen im Land.

Meinungsstreit und Konfliktbereitschaft  sind zu keinem Zeitpunkt und keiner Konstellation völlig unverzichtbar, will man seinen Beitrag zum Ausbau der Zivilgesellschaft leisten. Es ist dies  ein prächtiges Spielfeld auch und gerade für Alt-68er quer durch die ganze politisch ursprünglich heterogene, aber wertbezogen identisch sozialisierte Generation  auf der Suche nach sinnvollem gesellschaftlichem Engagement. Das kann helfen, dass die Fliehkräfte der Gesellschaft nicht schneller wachsen als das gegensteuernde Bürgerengagement. (wenn es denn gegensteuert; einen Automatismus gibt es nicht)

Bürgerschaftliches Engagement ist nicht der einzige Pfeiler der Zivilgesellschaft, aber ein ganz wichtiger.

Die Visionäre der Zivilgesellschaft  fragen, was die demokratisch geführten Länder den angeblich effizienteren autoritären Systemen als Alternative entgegen setzen können, was, wenn nicht den  Ausbau der Zivilgesellschaft und ein besseres Zusammenwirken von Zivilgesellschaft, Staat  und Wirtschaft? Strachwitz gehört zu diesen Visionären, einer, der den großen Atem hat, aber er ist durch sein lebenslanges Tun auch Pragmatiker und vermeidet unkritisches Gutmenschentum-Gebrabbel. „Zivilgesellschaft ist als Gelingensbedingung von Freiheit und Ordnung erkannt, ein neuer Gesellschaftsvertrag ist angesagt. Wir brauchen dringend eine öffentliche Debatte darüber“, fordert Strachwitz.

Das Hörbuch , drei CDs, 185 Minuten, das ich empfehele, heißt „Quinessenzen, Überlebenskunst für Anfänger.“ Autor und übrigens sehr überzeugender Sprecher in seiner ruhigen argumentativen Art ist Sven Böttcher. Das Hörbuch ist in steinbach sprechende bücher erschienen. Böttcher, Jahrgang 1964, ist schwer erkrankt und er spürt den Wunsch, Dinge, die ihm klar geworden sind, seiner ältesten Tochter mitzuteilen. Das könnte nun ein peinlicher Text sein, irgendwas zum Fremdschämen weil man Interna hört, die nicht interessieren.  Ist Sven Böttcher aber gar nicht. Er ist lebensklug, dabei weder so abgehoben redend, dass nichts falsch sein kann, noch so speziell, dass man den Aussagen keine lange Haltbarkeit bescheinigen möchte. Wie der Autor da die goldene Mitte hält, das ist bewundernswert. Und dass Böttcher auch noch etwas von Naturwissenschaften versteht, und zwar nicht zu wenig, macht die Texte zudem wertvoll, denn dererlei gehört noch längst und vielleicht nie zum Kanon des intellektuellen Rüstzeugs. Allein Vätern, die mal wieder Ratschläge geben wollen und sich fragen, wie sie mit dem Älteren zumeist eigenen Belehrungsdrang begrenzen. sei dieses Hörbuch ans Herz oder besser ans Ohr gelegt. Hier zeigt einer, wie man es machen kann.

 

 

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