Gründe gegen Bürgerengagement

21 Nov
21. November 2014

76/Nov. 2014

Guten Tag, wahrlich nicht nur überzeugungstaktische Gründe haben mich bewogen, einen Beitrag mit Gründen gegen Engagement zu schreiben. Mich ärgern schlichte Werbephrasen („Engagement macht glücklich“) und vollmundige Sprüche von Machtträgern, die selber ihr ehedem ehrenamtliches Parteiengagement längst in gut bezahlte öffentliche Positionen umgewandelt haben, sich beim Vollzug der übernommenen Pflichten auch stets noch als der gute Onkel oder die gute Tante der Bürgerschaft gerieren (z.B. wenn sie einen sehr kleinen Teil des Steuergeldes für Engagementstrukturen freigeben) und sich wechselseitig für ihre Verdienste (eigentlich nur für ihre Arbeit) Orden umhängen, während die Engagierten mit Urkunden und warmen Worten bedankt und befriedet werden. Das war jetzt ein bisschen polemisch, aber nicht nicht ganz verkehrt, oder? (Ausnehmen möchte ich die nicht wenigen Parteisoldaten, die als einfache Mitglieder Zeit und Geld einsetzen und sich von Freiwilligen in der Zivilgesellschaft nicht sehr unterscheiden. Allerdings ist ihr Beitrag, der Logik der Parteiendemokratie folgend, häufig eher spalterisch als bindend)

Deswegen hier zweierlei:

Erstens der erwähnte Beitrag, der im aktuellen bbe-Jahrbuch in leicht veränderter Form nachzulesen ist, und zweitens der Link auf die Augsburger Erklärung der bagfa zur Situation des Bürgerengagements. Die Erklärung enthält die Forderung, an Bund und Länder , „die Kommunen zu befähigen, Engagementförderung als Pflichtaufgabe wahrnehmen zu können“.

http://www.bagfa.de/fileadmin/Materialien/Augsburger_Erklaerung_19._Jahrestagung.pdf

Mit besten Grüßen

Henning v. Vieregge

 

Neun Gründe, sich im Alter  bürgerschaftlich nicht zu engagieren[1]

Wer sich im Alter nicht bürgerschaftlich engagiert, kann verschiedene Gründe haben. Dass er oder sie dies noch nie gemacht habe, ist aber keine Begründung. Schließlich war fast jeder vierte ältere Engagierte vor dem „Ruhestand“  nicht bürgerschaftlich engagiert[2], steigt also neu ein. Kundige Stellen schätzen das aktivierbare Engagement-Potenzial unter den Älteren nochmals etwa gleich hoch ein.[3]  Damit besteht Anlass, sich mit den Argumenten gegen Engagement zu beschäftigen. Das kann hier nur im Schnelldurchgang passieren. Vertiefung lohnt sich als Ausgangspunkt zur Diskussion um Gegenstrategien.

  1. Zu wenig Wissen

Bei vielen Nicht-Engagierten herrscht Unwissen über die Vielfalt der Engagementfelder.[4] Da der Antrieb, etwas tun zu wollen, meist nur in einem schmalen Zeitfenster besteht, und das Wissen um Beratungs- und Vermittlungsorganisationen wie Freiwilligenagenturen und Seniorenbüros gering ist, wird die Suche oft schon abgebrochen, bevor sie richtig begonnen hat. Grüne Damen und Tafelbewegung prägen das Bild zu stark.

  1. Zu wenig Selbstvertrauen

Eine weitere Gruppe von Nichtengagierten ist deswegen untätig, weil sie sich nichts zutraut. „Was kann ich denn schon?“, fragte eine Frau, die im mittleren Management eines Großunternehmens erfolgreich in der Finanzabteilung gearbeitet hat.

  1. Zu wenig maßgeschneiderte Angebote

Es fehlt an Angeboten, die Menschen direkt auf ihre Fähigkeiten hin ansprechen und gleichzeitig genügend Freiraum zur Ausgestaltung geben. Wie Potential getriggert werden kann, lässt sich exemplarisch an einer Gründungsunterstützung zur Generationen- und Nachbarschaftshilfe in Kommunen des Odenwaldkreises zeigen.  Eine Mitarbeiterin der Diakonie hat mit Hilfe eines Landesprogramms innerhalb eines halben Jahres in fünf Kommunen Nachbarschaftshilfsvereine aus zumeist bis dahin nicht engagierten älteren Mitbürgern gründen helfen[5].  Nur in einigen Bundesländern ( z.B. Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen) gibt es staatliche Unterstützung für Bürgerversammlungen, aus denen heraus entschieden wird, was Bürger tun wollen.

  1. Nicht schon wieder  abhängig arbeiten

Manche potentiell Engagierte befürchten, sie könnten vom Regen des bezahlten abhängigen Arbeitens in die Traufe unbezahlten abhängigen Arbeitens kommen. Dies ist auch einer der Abbruchgründe. Das Personalmanagement von Freiwilligen ist in Großorganisationen im Aufbau. Es ändert aber nur gefühlt  am Prinzip. Eigensinn ist in diesen Orten des bürgerschaftlichen Engagements nicht gesichert.

  1. Wertschätzung ist nicht einklagbar

Wer seine Entscheidung für oder wider Engagement von einer garantierten Wertschätzung abhängig macht, kann enttäuscht werden. Im Gegenteil: Nicht überall ist der Freiwillige willkommen. Auch wenn Unterstützung durch Freiwillige ausdrücklich gewünscht wird, ist damit nicht sichergestellt, dass alle Mitarbeiter unterstützend, aufmerksam und wertschätzend mit den Freiwilligen umgehen[6].

  1. Freiwillige ohne Rechte

Einen Einwand hört man (bisher) selten, obwohl er durchaus Gewicht haben könnte: Wer unentgeltlich zu arbeiten bereit ist, hat weniger Rechte als ein bezahlter Arbeitnehmer.[7] Hier fehlt es an einer Organisation von Ehrenamtlichen für Ehrenamtliche

  1. Gegen Lückenbüßer-Einsatz

Brunnen werden abgestellt, Grünanlagen nicht mehr gepflegt, Büchereien und Schwimmbäder unter dem Druck der kommunalen Verschuldungslage geschlossen. Der Bürger springt ein, schließt die Lücken. Ist das freiwillige Bürgerengagement überhaupt freiwillig? [8]

  1. Bitte keinen Unruhestand

Laut einer Untersuchung des Meinungsforschungsinstituts Nextpractise im Auftrag der Körber-Stiftung 2013 fühlt sich ein Drittel der Bevölkerung durch die Forderungen staatlicher Instanzen nach Bürgerbeiträgen darin bestätigt, der Staat lasse nun den wohlverdienten Ruhestand zunehmend nicht mehr gelten.[9]

  1. Engagement als Ausrede

Nicht wenige Engagierte klagen über fehlenden Rückhalt durch ihren Partner, dem oder der  der Zeitverbrauch für Dritte  missfällt. Engagierte, die sich selbst kritisch befragen, können mitunter ihrem Partner im Stillen nur recht geben: ihr Engagement lenkt sie moralisch abgesichert davon ab, Wichtiges im Leben angemessen Zeit zu geben. Engagement ist dann die Kür, die vor der Pflicht bewahrt.[10]

Kurzes Fazit

Die Wahlentscheidung des Bürgers muss verteidigt werden, auch wenn sie anders ausfällt als zugunsten von bürgerschaftlichem Engagement, nämlich zugunsten keiner Tätigkeit im Alter [11] oder auch zugunsten bezahlter Arbeit.[12]

Für bürgerschaftliches Engagement sprechen viele Gründe,  die der Leserschaft bekannt sind. Der entscheidende ist so etwas wie reflektierter Egoismus. Für Klaus Dörner bietet  Engagement eine Chance, länger gesund zu bleiben. „Man kann auch durch Unterbelastung krank werden. Die Auslastung scheint zum neuen Gesundheitsideal zu werden. Egoismus und Altruismus gehen hier miteinander über.“[13]  Es ist also richtig und wichtig, dass Potentiale ausgeschöpft und die Menschen an die für sie richtigen  Positionen kommen.

So wichtig es ist, dass der Einzelne in einem sorgfältigen Sondierungsprozess unter Einschaltung professioneller Beratung findet, was generell zu den Sehnsüchten und Gaben dieses Menschen  und speziell in seiner aktuellen Lebenssituation passt, so lässt sich mit Blick auf die gesellschaftliche Situation konstatieren, dass Angebot und Nachfrage auf diesem Weg immer nur teilweise zur Deckung kommen werden. Freiheit der Entscheidung für oder gegen bürgerschaftliches Engagement und wenn ja, für was, hat ihren Preis.

[1]Ergänzter Beitrag für „engagement macht stark!“, Magazin des Bundesnetzwerkes Bürgerschaftliches Engagement bbe Nr.1/2014 S. 72-75 sowie in: Ansgar Klein, Rainer Sprengel, Johanna Neuling (Hrsg.), Jahrbuch Engagementpolitik 2015, Schwalbach 2015, S.166-169

[2] Siehe: Generali Altersstudie 2013, Frankfurt 2012, S.354: Kaum oder gar kein Engagement vor dem Rentenalter.

[3] 23 Prozent schätzt Bernhard Nacke, Ehrenamtsbeauftragterder Ministerpräsidentin in Rheinland-Pfalz.

[4]Lohnend ist ein Blick in die Datenbank der Aktion Mensch. Am Engagemnt-O-Mat kann man leichter Hand eine erste Einschätzung zu seinem Profil erhalten und sich Angebote anschauen. https://www.aktion-mensch.de/freiwillig/engagement-o-mat.php

 

[5]Wer mehr wissen will, googelt Beate Braner-Möhl, Odenwaldkreis, Nachbarschaftshilfe

[6] Vergl. dazu Paul-Stefan Roß, Hilli Tries „Die Kernfrage des freiwilligen Engagements ist die Gewinnung der Hauptberuflichen“ in: Wegweiser Bürgergesellschaft, E-Newsletter 10/2010 vom 28.5.2010,

[7] „Ehrenamtliche genießen auch künftig nicht dieselben Schutzrechte wie Arbeitnehmer“, heißt es in einer Zeitungsmeldung. Und weiter: „ Da das Ehrenamt unentgeltlich ausgeübt werde, könne es nicht mit einem Arbeitsverhältnis gleichgesetzt werden, urteilte das Bundesarbeitsgericht am Mittwoch in Erfurt in einer Grundsatzentscheidung. Ehrenamtliche Mitarbeiter können daher formlos, ohne Angabe von Gründen oder Einhaltung von Fristen, von ihrer Tätigkeit entbunden werden.“ Eine 46 jährige Telefonseelsorgerin aus Chemnitz, langjährig ehrenamtlich tätig, musste von einem Tag auf den anderen gehen, ohne dass ihr die Gründe dafür genannt worden waren. Sie sagt: „Ich wollte, dass man darüber nachdenkt, wie man mit Ehrenamtlichen umgeht. Sie arbeiten schon ohne Geld und haben null Rechte“.

(Berliner Zeitung 30.8. 2012,Az.: 10AZR 499/11)

 

[8] Wer das befürchtet, zitiert die Ministerialverwaltung des für Bürgerengagement federführenden Bundesministeriums für Familien, Senioren, Frauen und Jugend, die im Vorwort der Kurzfassung des  2012 erschienenen  Ersten Engagementberichts davon spricht  „…mitzuwirken sei eine ‚freiwillige Bürgerpflicht‘“  Wie viel Freiwilligkeit bleibt bei einer Pflicht?

 

[9]Unter dem Slogan „Alter neu erfinden „hat die Körber-Stiftung dazu eine 18 seitige Broschüre über die Ergebnisse der qualitativen Studie „Alter: Leben und Arbeit“  und eine zugehörige Netzwerkkonferenz vom 20. Februar 2013 herausgegeben. Darin heißt es: „Nur  für knapp ein Viertel der Deutschen ist erfülltes Alter gleichbedeutend mit Initiative, Leistung und Aktivität.“ Gegen dieses gesellschaftliche Leitbild sei „ bei drei Viertel der Bevölkerung mit Widerstand zu rechnen“. (S.8) Nextpractise clustert vier Alterstypen: kollektiv-solidarisch (34 Prozent), hedonistisch (30 Prozent), aktiv-leistungsorientiert (22 Prozent) und wertkonservativ (14 Prozent)

 

[10]So schrieb uns die vielfach engagierte Ursula Zwanzger: „Ein Motiv für den eigenen ehrenamtlichen Einsatz könnte auch die „Aufschieberitis“ bei einem selbst sein, was ich bei mir feststellte: statt an wichtige Dinge wie das Erstellen von Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht , Testament etc. und vor allem das „Ausmisten“ der eigenen Wohnung zu gehen, nach „draußen“ zu fliehen“. (Mailvom 29. Juli 2014)

[11] In der geltenden Definition gilt Familienarbeit, wie die Pflege von Angehörigen, bekanntlich nicht als Freiwilligenarbeit.

[12] Wer bezahlter Arbeit nachgeht, ist auch für unbezahlte zu haben. Die Vermutung, dass Ältere jenseits der Pensionsgrenze mit bezahlter Arbeit aufgeschlossener gegenüber Anforderungen zu unbezahlter Arbeit sind als Generationsgenossen, die gern bezahlt arbeiten würden, aber nichts finden, kann in Ermangelung von entsprechenden Daten nicht belegt werden. Die Frage, unter welchen Voraussetzungen und in welchen Grenzen Freiwilligenarbeit bezahlt werden sollte, wird heiß diskutiert. Verwiesen sei auf Veröffentlichungen der Darmstädter Hochschullehrerin Gisela Jakob.

[13]Klaus Dörner im Interview „Fürs Helfen ansprechbarer geworden“, in: Deutsches Ärzteblatt, Heft 5/2014 S. A 168

[

© Copyright - Henning von Vieregge