Was ist Gemeinsinn? 11 Thesen zum Verständnis

27 Aug
27. August 2013

BRIEF Nr. 50/ 2013

Guten Tag,
Wir lesen, der Gemeinsinn sei im Schwinden.
Woher wissen die Schreiber das?
Was ist eigentlich Gemeinsinn? Und warum ist er wichtig?
Darüber habe ich mir mit Vorstandskolleginnen und -kollegen der Aktion Gemeinsinn, Bonn, Gedanken gemacht. Das Resultat lesen Sie hier:

11 Thesen über Gemeinsinn

  1. Gemeinsinn ist die Haltung, die eine Kultur der guten Nachbarschaft fördert und festigt, in autoritären und totalitären Regimen gegen Staat und Wirtschaft, in demokratischen Systemen wie dem unsrigen im kritischen Miteinander.
  2. Gemeinsinn misst sich am Grad des Vertrauens zueinander und des Interesses füreinander und damit des Zugehörigkeitsgefühls. Aus allem wächst die Bereitschaft, als Bürger aktiv zu werden.
  3. Bürgerschaftliches Engagement ist praktizierter Gemeinsinn. Wichtig ist die Erfahrung eigener Wirksamkeit, am besten schon in jungen Jahren. Sie begründet nicht selten eine lebenslange Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen.
  4. Gemeinsinn ist eine der zentralen Voraussetzungen eines verträglichen gesellschaftlichen Miteinanders.
  5. Das Bedürfnis nach Selbstbestimmung und Eigenständigkeit führt nicht geradewegs zu Entsolidarisierung und Egoismus. Umgekehrt: Bürgerschaftlicher Eigensinn schützt vor Missbrauch von Gemeinsinn.
  6. Gemeinsinn als Haltung kann missbraucht werden und wurde historisch immer wieder missbraucht. Dies geschieht, wenn Gemeinschaftsorientierung ideologisch instrumentalisiert wird. Ablesbar ist diese Indienstnahme an Forderungen an das Individuum, sich angeblich höheren Interessen bedingungslos unterzuordnen. Kennzeichen dafür sind anti-individualistische Parolen.
  7. Gemeinsinn im Verständnis einer offenen, pluralen Welt ist die Haltung, die die eigene Wahrheit und das eigene Wollen nicht verabsolutiert, aber auch nicht aufgibt. Es ist also nicht nur illusionär, eine Gesellschaft von Altruisten anzustreben, sondern gar nicht wünschenswert. Wir brauchen einen nicht endenden Diskurs über den jeweils besten Weg zwischen überzogenem Individualismus und überzogenem Kollektivismus. Nur so bildet und stabilisiert sich bürgerschaftlicher Gemeinsinn in der Demokratie, gerade auch in Abgrenzung zu autoritär angelegter Konkurrenz.
  8. In Zeiten des Individualismus sind Erb- Mitgliedschaften in Parteien, Gewerkschaften, Kirchen usw. selten geworden. Gemeinsinn als Gemeinschaftsfähigkeit ist aber – und hier irren viele Pessimisten- nicht verkümmert. Im Gegenteil: Vieles Neue an Engagementplattformen ist in den letzten Jahrzehnten entstanden. Hieran haben die Kampagnen der Aktion Gemeinsinn ihren Anteil.
  9. Viele nichtstaatliche Organisationen, Stiftungen, Initiativen, aber auch staatliche Institutionen und Unternehmen arbeiten an der Stärkung bürgerschaftlicher Aktivitäten. Gewünscht werden Bürger, die über den Tellerrand ihres Eigeninteresses nachdenken und handeln. Ihnen geht es um Gegenwart und Zukunft ihres Wohnquartiers, ihrer Region, Nation, Europas und der Welt.
  10. Es geht um mehr Gemeinsinn und somit um eine deutliche Steigerung bürgerschaftlicher Gemeinschaftsfähigkeit , um die Herausforderungen , die weltweit aus der Vernachlässigung von sozialer, ökonomischer und ökölogischer Nachhaltigkeit entstanden sind, in Chancen umgewandelt werden können. Gleiches gilt für die Herausforderung einer weltweit extrem gegensätzlichen demografischen Entwicklung zwischen Schrumpfung hier und starkem Wachstum dort.
  11. Können Gemeinsinn als Haltung, bürgerschaftliches Engagement als Konsequenz dieser Haltung und eine gegenüber Staat und Wirtschaft gestärkte Zivilgesellschaft als Folge wirkungsvoller Freiwilligenarbeit die Zukunftsherausforderungen tatsächlich verringern? Das ist offen, aber einen anderen Weg gibt es weder für in ihrer Funktionsfähigkeit bedrohte Institutionen noch für die Gesellschaft insgesamt.

Henning von Vieregge mit Cornelie Sonntag-Wolgast, Christian Wilmsen, Dirk Propping, Helga Schultz, Guido Mathes
Stand: Sept 2013

Empfehlenswert ist die Lektüre
Bertelsmann Stiftung, Bertelsmann Forschungsgruppe Politik (Hrsg.)
Gemeinsinn Gemeinschaftsfähigkeit in der modernen Gesellschaft
Gütersloh 2002,

von der der Text oben profitiert. Benutzt wurde die Fassung im Netz http://www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xbcr/SID-70A50420-32059541/bst/xcms_bst_dms_15268_15269_2.pdf

Mit herzlichem Gruß rundum
Henning von Vieregge

P.S. In diesem Fall freue ich mich besonders über Rückmeldungen.

© Copyright - Henning von Vieregge