Nr. 49 / August 2013 Mainzer Bahn-Skandal
Mainzer Bahn-Skandal
Serviceschwächen sind kein Privileg der Bahn. Notwendig ist der Börsengang.
Guten Tag allerseits. Die Republik lacht und die Politik schäumt wegen sieben Stellwerksexperten vom Mainzer Stellwerk. Vier von ihnen sind krank, drei im Urlaub von 18 insgesamt. Nach neuen Zählungen sind fünf krank, drei im Urlaub und insgesamt sind es 15. Der Verkehr am Mainzer Bahnhof ruht aus Stellwerksexperten-Mangel zu großen Teilen, als Mainzer Bahnfahrer ist man vor keiner negativen Nachricht sicher.
Wie sagte Fußballtrainer Ali Cakici vom TSV Schott Mainz unlängst: „Kameradschaft entsteht, wenn der Kamerad schafft. Wenn das jeder beherzigt, haben sich alle gern.“ Ich habe schon oft erlebt, dass diese Fußballer-Weisheit bei Bahnmitarbeitern durchaus beherzigt wird. Man spürt Empathie zueinander und zum Kunden. Aber Ausnahmen der unerfreulichen Art gibt es immer. Damit die nicht zur Struktur gerinnen, muss energisch gehandelt werden.
Zunächst besetzte die Bahngewerkschaft das „Wer hat Schuld“ Feld. Der angeblich unangebracht brachialen Sparkurs der Bahn durch den damaligen Bahnchef Mehdorn hat’s verursacht. Damit man es glauben soll, wurde angefügt „indirekt“. „Privatisierung ist schlecht“ sollte dem Bürger eingebimst werden. Das Gegenteil ist richtig. Mit der Privatisierung wäre die Bahn, ähnlich wie die Telekom, ein eigenständiges Unternehmen geworden und -besonders wichtig- hätte frisches Geld über Aktien bekommen. Damit hätte es die geplanten Investitionen durchführen können. Die Stellwerke wären samt und sonders vollautomatisch und bräuchten weit weniger Personal. Als die Politik den Börsengang abblies, hätte sie der Bahn zugestehen müssen, ihre Gewinne zu investieren. Stattdessen hat der Staat abgeschöpft, was eben nur geht. Daran sind alle Parteien beteiligt. Die Reform der Bahn ist auf halbem Weg stecken geblieben. Soll es jetzt vorwärts oder ganz zurück gehen?
Will denn jemand ernsthaft die Auslösung von Bahn, Post und Telekom aus der unmittelbaren Politiklenkung und die damit verbundene Entbeamtung der Mitarbeiterschaft wieder rückgängig machen? Das Ergebnis wären Fahrpreiserhöhungen von schätzungsweise 50 Prozent. Die Bahn war 1994 eine Behörde, „schwerfällig, marode und heruntergewirtschaftet….die Personalkosten lagen höher als der Gesamtumsatz“ (ZEIT vom 14. August)
Wenn Bürger schlechten Service bekommen, ist dies in aller Regel nicht beim Frisör, im Kaufhaus oder in der Autoreparaturwerkstatt. Es sind Ämter und Monopolisten.
So gibt es immer wieder Klagen darüber, dass die Mainzer Stadtämter Anfragen nicht beantworten, vertrösten, hinhalten, Informationen verschlampern etc. Dann geht der Oberbürgermeister, ein Meister der Schuldzuweisung im parteipolitischen Phrasenkampf, in Deckung und schickt eine Pressefrau vor, die alle Versäumnisse mit „Arbeitsdichte in der entsprechenden Abteilung“ begründet. (zuletzt gegenüber Kita-Bewerber Familie Scheck, AZ vom 23. Juli) Was bitte ist der substanzielle Unterschied zur Bahnbegründung?
Nur ganz schüchtern dringt der Verdacht durch, die Mainzer Peinlichkeit könnte ein gezieltes Manöver aus der Bahngewerkschaft sein. Bekanntlich ist „Dienst nach Vorschrift“ die schärfste Streikwaffe, jedenfalls dann, wenn diejenigen, die sich so verhalten, zur Solidarität mit ihren Kollegen und zur Identifikation mit ihrem Arbeitgeber weder durch Anreize noch durch Sanktionen gebracht werden können. Offenbar stehen die nächsten urlaubswilligen Stellwerker schon in der Tür und niemand kann sie stoppen. Der Bahnchef persönlich hat es gerade versucht. Nun wird gemeldet, er stehe deswegen zunehmend unter Druck. Die Bahngewerkschaften finden es unmöglich, dass der oberste Chef mit seinen Mitarbeitern spricht und sie bittet („Bitte schlafen Sie darüber eine Nacht“), den Urlaub zu verschieben. Ich fände das Gegenteil unmöglich. Ein Chef, der in solch prekärer Situation diesen Versuch nicht unternimmt, gehört nicht in die Führung. Genau dies ist aber die eigentliche Crux: die Ohnmacht der Führung den Mitarbeitern gegenüber. Die Skandalisierung normalen Managerverhaltens. Anklagend hochgehalten werden „Hunderte von Überstunden“ als handele es sich um die Wunden des Gottessohns. Übersehen wird, dass es sehr viele Menschen gibt, die ganz selbstverständlich einspringen, wenn Not am Mann (oder an der Frau) ist. In den Klein- und Mittelbetrieben, die ganz wesentlich den Wohlstand aller sichern, betrachten viele Mitarbeiter eine etwas längere Arbeitszeit als tariflich oder sonstwie als Teil ihres Berufs. IG-Metall-Chef Franz Steinkühler pflegte in seiner Dienstzeit zu bemerken, er habe seine 35 Stunden Woche am Mittwoch erreicht. Danach ließ er aber nicht die Arbeit ruhen, wie es sich die Arbeitgeber damals sehr gewünscht hätten. Er meinte entschuldigend, Chefs machten das so. Es sind eben nicht nur Chefs. Großbetriebe und hier vor allem staatlich gelenkte oder rein staatliche Organisationen haben die höchsten Krankenstände, die niedrigsten Arbeitszeiten und das höchste Klageniveau. Wieso eigentlich? Das ist doch kein Zufall.
Nun könnte man auch sagen, wie sollen die nach ihrer Auffassung über Gebühr beanspruchten Mitarbeiter denn sonst auf ihre fatale Lage aufmerksam machen? Was sonst löst Krisengipfel der peinlichen Art aus, wie jener, der gerade bei der hiesigen Ministerpräsidentin stattfand. Anderthalb Stunden, 30 mal Überbau am runden Tisch, dahinter Referenten. Alles für die Politshow „Wir kümmern uns“, bei der auch der Einflussloseste nicht fehlen wollte. Man würde sich wünschen, die Hälfte der Anwesenden hätte nie den Weg in den Öffentlichen Dienst gefunden und fünf wären zur Bahn als Stellwerker gegangen. Dann wäre Geld für die notwendigen Investitionen da, die der die Gewinne abschöpfende Staat verhindert hat, und genug Leute. (Zugegeben: Das ist ein bisschen populistisch argumentiert, aber nur als Gegenwehr)
Verschwörungsanhänger könnten auf die Idee kommen, die ganze Mainzer Stellwerksarie sei in Wirklichkeit eine verdecktes Zusammenspiel von Bahnmanagement und Bediensteten, um die Politik zum Handeln zugunsten des Unternehmens zu zwingen. Aber in welche Richtung? Jede Krise birgt die Gefahr, dass die falschen Schlüsse aus ihr gezogen werden. Wenn es nach der Mehrheit der veröffentlichen Meinung ginge, sind wir im Fall der Bahn gerade dabei. Ich glaube an keine der beiden Verschwörungstheorien, weder die, die Gewerkschaften hätten die Peinlichkeit organisiert noch an die, Bahngewerkschaften und Bahnmanagement hätten zusammengespielt. Wahrscheinlich sind, wie bei eigentlich jedem schweren Unfall, viele Dinge aus Dollerei und Zufall unglücklich zusammen gekommen. Sicherlich hat auch das Management zu lange laviert.
Das Unternehmen muss aber prinzipiell aufpassen, nicht abhängig vom Wohlverhalten einer kleinen Expertentruppe zu werden; es muss tun, was es schon länger wollte: in Technik investieren, den Personalbedarf senken und -bei geringerer Anfälligkeit des Gesamtsystems- die Rationalisierungsgewinne an den Fahrgast weitergeben. Und die Politik sollte nach der Bundestagswahl einen neuen Anlauf nehmen, die Bahn zu einem echten Unternehmen zu machen. Die Chancen, dass dies passiert, sind gering. Wenn die EU dies nicht erzwingt, wird es in keiner Parteienkonstellation passieren. Politik verzichtet nur im Notfall auf Einfluss und wirtschaftliche Argumente haben zur Zeit auch beim Bürger keinen großen Rückhalt. Nur die FDP vertritt diese Position und die hat ihren Einfluss schuldhaft verscherbelt. Dem Bahnmanagement, Grube persönlich, ist zu attestieren, dass es nach einer Schockstarre überzeugend agiert hat. Der Schaden war aber schon eingetreten. Die Bahn hat sich als Skandalnudel bewährt. Über Staus auf der Autobahn und Flugverspätungen wird kaum geschimpft, die Bahn ist Opfer des eigenen Mythos von der absoluten Zuverlässigkeit dieses Verkehrsmittels. Und da die meisten Deutschen im Ausland nicht Bahn fahren, gilt der historische innerdeutsche Maßstab. Die Fahrgäste sind weitaus pampiger als das Personal. Aber das ist ein anderes Thema.
Mit herzlichem Gruß
Henning von Vieregge