Am Berufsende zermürbt? Brief an einen deprimierten Hauptgeschäftsführer

27 Nov
27. November 2019

Blog 218/November 2019
Guten Tag, draußen ist es grau. Da fiel mir ein Text ein, den ich vor einiger Zeit für den Verbändereport geschrieben habe und der der Redaktion offenbar zu negativ war. Ich habe mir ihn nochmals durchgelesen und finde, er passt in die Jahreszeit. Es gibt auch in der Verbändewelt verschiedene Realitäten, eine davon ist diese (natürlich eine fingierte). Und der Ratschlag am Schluss ist nicht nur für Verbandsgeschäftsführer hilfreich. Davon bin ich überzeugt. (Mehr dazu in meinem Buch „Neustart mit 60, Anstiftung zum dynamischen Ruhestand“, bestellbar über Amazon oder www.neueufer.de

Mit herzlichen Grüßen
Henning v. Vieregge

Lieber Jan
ich war mir nach unserem gestrigen Treffen nicht sicher, ob ich mit einem Brief reagieren soll. Dann habe ich mich daran erinnert, was Du über Freundschaft sagtest, es ist Jahre her. Wenn sich Freunde nicht die Wahrheit sagen, wer soll es sonst tun?
Also: ich fand dich zermürbt. Ich habe dich noch nie so erlebt. Du hattest mich eingeladen, um mit mir über deine berufliche Situation zu sprechen. Ich habe dir zugehört. Du hast mir die Schwierigkeiten in eurem Team, aber vor allem mit dem Vorstand geschildert. Das Team ist Dir zu langsam, fehlerhaft und liebedienerisch. Und Du bist ja auch nicht sicher, ob dein Stellvertreter sich nicht klammheimlich einen direkten Draht in den Vorstand hinein aufgebaut hat und dort Interna einfüttert. Und wenn es so nicht ist? Misstrauen zerfrisst, aber Du siehst keinen Weg, wie Du die Wahrheit herausfinden kannst. Und dann der Vorstand. Der Präsident ist eitel. Im Grunde, so ist ein Eindruck, ist ihm der Verband gar nicht wichtig. Er macht nur das, was auf seinen Ruhm einzahlt. Wenn im Verband etwas schief geht, will er sicher sein, dass er damit nichts zu tun hat. Er weist dich immer wieder darauf hin, dass er von Dir wegweisende Impulse erwartet und Du andererseits für nichts weiter als die laufenden Geschäfte zuständig bist. Er beklagt sich, dass Du die übertragenen Aufgaben nicht zeitgerecht und in der erwarteten Qualität erledigst, sorgt aber selber durch stetes Hineingrätschen in deinen Tagesplan dafür, dass Du chancenlos bist. Die anderen Vorstandsmitglieder sind untereinander teilweise heillos zerstritten. Sie zanken sich auf der Verbandsplattform über bilaterale Konkurrenzthemen. Was sie vereint, ist das Desinteresse am Verband. Der Präsident nervt und Du mit Deinen Verbandssachen langweilst sie. Wenn Du vorträgst, so hast Du erzählt, kannst Du von acht Vorstandsmitgliedern allenfalls zwei zum Augenkontakt bringen, die anderen sind mit ihren Smartphones beschäftigt. Die eine Ausnahme ist der Präsident, der auf Fehler lauert, die andere jemand, der nett und loyal ist, aber ohne Einfluss.
Zusammengefasst: Es läuft zurzeit alles schief und niemand ist auf deiner Seite: der Präsident, der Vorstand, die Mitarbeiter, keiner.
Von den Mitgliedern ist keine Revolte

zu Deinen Gunsten zu erwarten.
Ich habe keinen Zweifel daran, dass deine Beschreibung eine Möglichkeit ist, die Realität abzubilden. Ich habe aber auch keinen Zweifel daran, dass Du bitter und mutlos geworden bist. Wenn ich früher Agenturen besuchte – ich war Geschäftsführer des Agenturverbandes –, kam es vor, dass Inhaber über die Ungerechtigkeit des Marktes, die Bösartigkeit ihrer Konkurrenten und die Treulosigkeit ihrer Kunden klagten. In diesen Agenturen war es fast immer sehr still geworden. Das Unternehmen brummte nicht, Freudlosigkeit stand in den Gesichtern der verbliebenen Mitarbeiter. Daran musste ich denken. Wenn ich dann Mut machen wollte, verfing keines meiner Argumente. Dabei waren die Inhaber, die mir nun grau und griesgrämig gegenüber saßen, einmal dynamische, erfolgreiche, ja mitreißende Unternehmer gewesen. Sie hatten den Zeitpunkt verpasst, auszusteigen.
Lieber Jan, das Stichwort heißt Resilienz. Dazu gibt es mittlerweile eine ganze Forschung. Denn es ist klar geworden, wie wichtig diese Eigenschaft ist, die sich unter diesem Begriff verbirgt: Es ist die Fähigkeit, aus Niederlagen, Schicksalsschlägen, tiefen Einschnitten im Leben wieder herauszufinden. Nicht jeder wird aus seinen Niederlagen stärker, wie dieser reichlich dumme Spruch „Was mich nicht umbringt, macht mich stärker“ suggeriert. Objektive Sachverhalte können durch die subjektive Verarbeitung überwunden, relativiert und eingeordnet werden, sie können aber auch bis zur Unumkehrbarkeit verstärkt werden. Dann nutzen alle Versuche, den Anderen aus seinem schwarzen Loch herauszuholen, nichts. Das gilt privat wie beruflich. So ist es mir mit dir ergangen. Jeder Versuch, Dir nahezulegen, das von dir geschilderte Geschehen unter einer anderen Perspektive nochmals anzuschauen, stieß auf deinen entschiedenen Widerspruch. Es habe alles keinen Zweck. Du habest alles versucht. Man solle dir nicht mit wohlfeilen Sprüchen kommen. Du wüsstest, wovon Du redest.
Lieber Jan, Du bist kein Einzelfall. Da ist der ausgebrannte Lehrer, der vom Sieger zum Loser wurde. Da ist der Unternehmer, der seine Angst vor weiteren Niederlagen durch Unbelehrbarkeit zu vermeiden sucht. Da ist der Politiker, der alle Ratgeber, die ihm nicht opportunistisch kommen, verbannt. Man spricht dann von Bunkermentalität. Viele, die in diese Situation kommen, kompensieren durch übersteigerte Wichtigtuerei. Erst, wenn sie ihren Job verlieren, kommen sie in der Realität an und die ist grausam.
Willst Du meinen Rat hören? Befreie dich aus der Situation. Verhandle über deinen Ausstieg und werde freischaffend. Du wirst sehen, in dem Moment, in dem Du diesen Beschluss öffentlich machst, fühlst Du dich anders.
So einen Brief schreibt man unter Freunden nur einmal. Er kann die Freundschaft kosten, er kann sie aber auch unzerbrechlich machen. Auf letzteres hoffe ich.
Mit herzlichen Grüßen
Henning

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