Vier Impulse aus den USA und ein Zitat gegen das Argument, Reisen machten klüger
72/ 2015 (28. September 2014)
Guten Tag,
aus den USA zurück, wesentlich Ohio und Ostküste. Ein Freund, der es wissen sollte, meinte, man könne jeden Eindruck aus den USA mitbringen. Das Land ist eben groß und widersprüchlich. Jede Verallgemeinerung verbietet sich deswegen (fast). Und wer nur kurz im Land ist, ist immer in der Gefahr, schnell zu urteilen in dem Fehlglauben, viel erfahren zu haben.
Deswegen in aller Vorsicht vier Beobachtungen
Erstens: Die Sauberkeit. Helfen der Mix aus drastischen Strafen und bürgerschaftlicher Mitverantwortung? Die höchste Strafandrohung bei Abfallentsorgung auf die Straße lasen wir in der Spitze von Cape Cod vor Provincetown: 10 Tausend Dollar. Ansonsten liegen die Strafandrohungen zwischen 200 und 1000 Dollar. Auf jeden Fall keine Petitesse. Erklärt dieses Sauberkeitstraining durch Strafandrohung auch die durchweg gepflegten Toilettenanlagen, auch die öffentlichen? Zur Straßenreinigung werden auf den Fernstraßen per Schilder Paten gesucht. Auch die Mitverantwortung hilft vielleicht. Bei den Privatuniversitäten ohnehin; diesen Unterschied in Sachen Sauberkeit kann man auch in Deutschland studieren. Studiengebühren schaffen Mitverantwortung.
Zweitens: Fließender Verkehr. Hilft Geschwindigkeitsbegrenzung? Es gibt immer eindeutige Geschwindigkeitsbegrenzungen. Die können auf Fernstraßen hoch auf 65 Meilen/h gehen. Das lässt zügiges Tempo zu, weil die Maximalbegrenzung gleichzeitig zur Normalgeschwindigkeit wird. Auch in den Städten kann man mit 25 Meilen/h zügig fahren. Ich war immer gegen Geschwindigkeitsbegrenzungen und halte die grassierenden 30 km- Einführungen in den Städten (gern auch im Wechsel zu 50 zu unterschiedlichen Tages- und Nachtzeiten) für blanken Unsinn, mit dem Dezernenten ihren Tatendrang beweisen. Aber nun bin ich für Geschwindigkeitsbegrenzungen a la USA (mit entsprechender Durchsetzungsmacht).
Drittens: Architektur an Universitäten als Beleg für Wertschätzung. In Yale und Harvard hat man erkannt, dass an die besten Hochschulen auch die beste Architektur gehört. Wenn man unter diesem Gesichtspunkt Schulen und Hochschulen in Deutschland anschaut, sieht man Korrekturbedarf. Da wird geflickt und geschustert und gespart. Deutlich an der falschen Stelle.
Viertens: Die Fettsucht. Sie schreitet scheinbar unaufhaltsam in den sogenannten entwickelten Ländern fort; die USA sind uns – noch- über; nach Augenschein und Statistik. Aber sie sind wahrscheinlich nur ein bisschen weiter. Was ist zu tun? In Berkely will man auf Limonaden eine Sondersteuer erheben : one-cent-per-fluid-ounce. Robert Reich, Professor an der dortigen Universität, früherer Arbeitsminister unter Clinton, beschreibt, wie Big Soda, wie er die Getränkeindustrie nennt, dagegen agiert und erinnert daran, dass Bürgermeister Michael Bloomberg mit einer ähnlichen Aktion in New York gescheitert ist. Seit 2009 wurde in über 30 Städten und Staaten versucht, Sondersteuern auf Limonade einzuführen. Jeder Versuch wurde bisher abgeblockt. Wer einmal in der Economy-Klasse neben einem richtig fetten Menschen gesessen hat beim vergeblichen Versuch, den ohnehin karg bemessenen persönlichen Handlungsraum zu verteidigen, der wird der Bekämpfung der Fettsucht durch Sondersteuern aufgeschlossen gegenüber stehen. So passierte es mir auf dem Rückflug; der Betreffende war übrigens deutsch und litt wahrscheinlich noch mehr als ich. Uns muss geholfen werden.
Zu den vier kursorischen Bemerkungen zitiert mein Kalenderblatt passend- unpassend den belgischen Dichter und Maler Henri Michaux, der im September 1928 an seinem Reiseziel Ecuador notierte: “ Jetzt steht meine Überzeugung fest. Diese Reise ist ein Fehler…Man findet die Wahrheit genauso gut, indem man achtundvierzig Stunden irgendeine Tapete anstarrt.“
Ich bin dieser Meinung nicht. Die Irrtumswahrscheinlichkeit ist in beiden Fällen, beim Reisen wie beim Starren, möglicherweise gleich groß.
Mit besten Grüßen
Henning v. Vieregge