Brief 42/2013: Alter und Demenz sind keine Krankheiten. Aber zur Zivilität für alle fehlt Vieles, besonders im 4. Lebensalter: Reimer Gronemeyers Einsichten.

10 Apr
10. April 2013

Ist Demenz keine Krankheit?

Liebe Leserin, lieber Leser,

es ist lohnend, sich mit dem Denken des Gießener Soziologen und Theologen Reimer Gronemeyer zu beschäftigen. Hier eine Rezension seines letzten Buches  „Das 4. Lebensalter. Demenz ist keine Krankheit“ und ein Interview, das ich im Herbst 2011 mit ihm für mein Buch „Der Ruhestand kommt später“ geführt habe. Als ich mit das Manuskript eigentlich schon abgeschlossen hatte, hatte ich das Bedürfnis, das Fazit mit einigen klugen Menschen zu diskutieren. Wer sich wie ich mit Begeisterung auf die Beschreibungen des historisch neuen und überaus attraktiven Dritten Lebensalters wirft, dem kommt dann doch die Frage: Und dann? Ist das, was dann kommt, nur verdrängter Stoff? Und was machen wir dann mit der Zivilgesellschaft, beginnt dann die Ausgrenzung? Wird die alte Misere nur etwas nach hinten gerückt und trifft dann um so härter? (mindestens diejenigen unter uns, die sich bei den Oster-Verheißungen vom ewigen Leben nach dem besiegten Tod nicht wirklich angesprochen fühlen)

Ich wünsche anregende Lektüre
Henning von Vieregge

Reimer Gronemeyer, Das 4.Lebensalter, Demenz ist keine Krankheit, München 2013

Der erste Satz des Buches und die dazugehörige  Fußnote haben es in sich. Der Satz heißt „ Wir leben im Jahrhundert der Demenz“ (S. 11)  Dazu erläuternd an späterer Stelle: „So wie wir es jetzt machen, wird es nicht gehen: eine wachsende Zahl von Pflegefällen, schrumpfende Geldmengen, sinkende Personalressourcen. Die Institutionalisierung der Pflege wird  in einem Chaos enden.“ (S.141) Reimer Gronemeyer, der Gießener Soziologe mit theologischen Wurzeln, Jg. 39, ein libertärer Aufklärers ohne Irrtumsfurcht, verweist in der besagten Fußnote auf das jüngste Buch eines Kollegen im Geist.

Die Rede ist von Klaus Dörner, Jg. 33, Psychiater. Und seinem Buch „Helfensbedürftig.  Heimfrei ins Dienstleistungsjahrhundert.“  Dörner setzt auf Selbsthilfe aus dem 3. Sozialraum, wie er es nennt, angesiedelt zwischen zwei Systemen, die es nicht schaffen: Staat und Familie. Gronemeyer  ist sich zwar sicher, so der Untertitel seines Buches, „Demenz ist keine Krankheit“. Aber was ist sie dann?  Altersschusseligkeit, paralleles Nachlassen der körperlichen und geistigen Kräfte oder  „gibt es eine Synergie zwischen dem wachsenden Irrsinn in der Gesellschaft und der Zunahme der Demenz“?, wie Gronemeyer fragt (S.368) Er teilt Dörners Hilfeoptimismus bezüglich freiwilliger Nachbarschaftshilfe im Mix mit  neu dezentral aufgestellten Profiorganisationen nicht, wenn er lapidar über eine Frau schreibt: „Sie hat es –wie wir alle- verlernt, die Nachbarin als eine mögliche Hilfe zu fragen.“ (S.145) So bleibt seine Forderung dramatisch formuliert, in den praktischen Konsequenzen aber eher vage: „Der Pflegesektor muss deindustrialisiert und entprofessionalisiert werden, wenn wir überleben wollen.“ (145)

Beunruhigend nachvollziehbar beschreibt Gronemeyer, wie Demenz als Krankheit  („Demenzhystrie“ S.182) aufgefasst  im Interesse eines florierenden Pflegesektors Menschen verängstigt, in Früherkennung und Gegentrainings treibe (ohne dass nachgewiesen sei, das derartiges Verhalten helfe) und sie schließlich um der besseren Bezahlung willen in der Pflege in die Gefahr bringe, mit Medikamenten sediert und angeschnallt dem Lebensende entgegen zu dämmern.  Wir seien „Zeitgenossen einer hemmungslosen Infantilisierung des Alters“. Nun haben wir gerade gelernt, dass es ein Drittes Lebensalter historisch neu gibt, dass sich zwischen Vollbeschäftigung und Hochalterigkeit geschoben hat und fittes Alter und „gewonnene Jahre“  hervorbringt, da öffnet Gronemeyer den Spalt zum Vierten Lebensalter und beschreibt ein „Areal allgemeiner Ratlosigkeit“, an dem die „Moden und Fehlentwicklungen einer konsumistisch und individualistisch aufgeladenen und vereinseitigten Gesellschaft krass erkennbar werden.“(137) Bei solchen gesellschaftskritischen Rundumschlägen duckt sich der Leser, die Leserin und fragt nach dem Positiven. Um zu lesen, dass es ein „blindes blödes Think positiv“ gebe (263), einer Feststellung, die man mit Blick auf all die politischen Aktionen zugunsten positiver Altersbilder , die da geballt auf uns niederprasseln, als wollte die Politik Jahrzehnte fehlleitender Politik angeblich wohlverdienten Vor-Ruhestandsverbringung ganzer Generationen in ein paar Monaten vergessen machen.

Gronemeyers lesenswertes Buch bietet keine Patentrezepte, sondern wirft wichtige Fragen auf, beleuchtet dunkle Ecken, ist ein unbequemes, hartnäckiges Buch mit mitunter schönem Pathos. „Wir brauchen Nachbarschaftlichkeit, Freundlichkeit, Wärme. Das wären die  Wegemarken dieser neu zu erfindenden Gesellschaft.“(257)

Henning von Vieregge

Interview mit Reimer Gronemeyer

Quelle: Henning von Vieregge, Der Ruhestand kommt später, Frankfurt 2012, S. 256-262
Gespräch mit Reimer Gronemeyer: „ Den Versuch machen, die Welt etwas gastfreundlicher zu verlassen, als wir sie vorgefunden haben“.

Prof. Dr. Dr. Reimer Gronemeyer, Jahrgang 1939, Theologe und Soziologe, kommunikativ und streitbar, publizierend und agierend, lebt „Zivilgesellschaft“. Darüber sprachen wir.

Henning von Vieregge: Auf welchem Pfad sind Sie zu Ihren Engagements gekommen?

Reimer Gronemeyer: Afrika ist eine ganz alte Leidenschaft. Ich wollte mal ein kleiner Albert Schweitzer werden. Daraus hat sich ein Engagement entwickelt: Im Sudan habe ich in einem Flüchtlingslager gearbeitet für das Rote Kreuz, dann für Forschungsprojekte in Simbabwe, in Namibia und Botswana über soziale Folgen zum Thema HIV-Aids. Die Epidemie ist ja dort am stärksten. Ich wollte wissen, was das eigentlich mit der Gesellschaft und insbesondere mit den Kindern macht, die als Aids-Waisen aufwachsen? Und daraus ist dann ein Engagement in einem Aids-Waisenhaus in Namibia entstanden. Das ist die eine Linie. Jeden Tag sterben 6.800 Menschen in Afrika an Aids. Das ist die Brücke zu den Themen Hospiz und Lebensende, mit denen ich mich seit langem befasse. Die Robert Bosch Stiftung ist auf mich zugekommen. Man wolle Kommunen in Deutschland dabei unterstützen, sich mit dem Thema Demenz zu befassen. Das ist ja auch ein Lebensende-Thema. Und so berühren sich in gewisser Weise die letzten Afrika-Forschungsprojekte mit der Frage der Demenz.


HvV: Ihr Beispiel zeigt, wie man weltweit vorrangige Themen in einzelne Projekte hineinnimmt, so dass die Projekte eben nicht vereinzelt sind, sondern eingebunden in eine große Bewegung.

RG: Ja. Meine Arbeit kreist um das Thema „soziales Engagement“. Ich denke, gerade wir Älteren sollten den Versuch machen, die Welt etwas gastfreundlicher zu verlassen, als wir sie vorgefunden haben.


HvV: Könnte die Formulierung „die Welt gastfreundlicher verlassen, als sie war“ das Ziel der Zivilgesellschaft umschreiben?

RG: Wenn wir übermorgen noch in Ruhe auf einem Platz sitzen und unseren Cappuccino trinken wollen, dann darf das, was im Moment in Großbritannien passiert, wo ganze Straßenzüge brennen, nicht passieren. Und die Frage ist: Wie ist das rechtzeitig zu verhindern? Dazu brauchen wir einen zivilgesellschaftlichen Aufbruch. Nicht nur in Bereichen, in denen Bürger ihre unmittelbaren Interessen vertreten, wie zum Beispiel bei Stuttgart 21, sondern auch mit dem Blick auf andere, auf Migranten, arbeitslose Jugendliche etc. Ich glaube, dass wir in einer gesellschaftlichen Situation leben, die dadurch gekennzeichnet ist, dass eine wachsende Zahl von Menschen an der gesellschaftlichen Sinnerfahrung nicht mehr beteiligt ist. Die Jugendlichen, die keine Arbeit finden oder die Erfahrung machen, dass sie nicht gebraucht werden, haben keinen Anteil an der zentralen Sinnsuche in dieser Gesellschaft. Und dann wird es gefährlich.


HvV: Sind wir der Zivilgesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten nähergerückt oder weiter weg geraten?

RG: Seit den 80er Jahren gibt es einen Wandel. Die Hospizbewegung zum Beispiel ist die vielleicht bedeutendste soziale Bewegung den vergangenen 30 Jahren in Deutschland. Sie ist explizit nicht politisch. Sie ist aber ein Ausdruck dessen, was uns unterscheidet von den 70er Jahren, der Zeit der Bürgerinitiativen. Wir können zwei gesellschaftliche Entwicklungen registrieren: Erstens ist der Wohlstand der Älteren noch mal deutlich gewachsen. Aber wir ahnen, dass ein Punkt gekommen ist, wo das nicht mehr so weitergeht. Zweitens: Das Individuum ist heute die Kernfigur der Gesellschaft. 50 Prozent aller Wohnungen in innerstädtischen Bereichen sind Singlewohnungen. Es wird allmählich schmerzlich spürbar, dass da was anfängt zu fehlen, die alten Nachbarschaftsmilieus zum Beispiel. Die Zivilgesellschaft ist, wenn man es positiv deuten darf, ein Versuch, eine Antwort zu finden auf eine ziemlich radikal individualisierte Gesellschaft, die bemerkt, dass sie im Begriff ist, an die Grenzen ihres Wachstums zu stoßen.


HvV: Die Grenzen der Nützlichkeit der Individualisierung werden spürbar?

RG: Innerlich und äußerlich. Die Zahlen der Burn-out- und Depressionsphänomene wachsen. Was bedeutet das? Ich denke, da kommt die Erfahrung zum Ausdruck, nicht geliebt zu werden, sich in keinen stabilen Beziehungen wiederzufinden. Und die Frage nach dem Sinn des Lebens. Ich als uralter Mann empfinde mich manchmal im Vergleich zu vielen jüngeren immer noch als lebenskräftiger. Hier die Psychiatrie in Gießen ist voll von 30-/40-jährigen Frauen, die das Leben nicht bewältigen. Was geschieht da?


HvV: Der Psychiater Klaus Dörner meint, die sollten sich sinnvoll beschäftigen, zum Beispiel etwas für den Nachbarn tun, dann würden sie auch nicht krank.

RG: Ich würde zustimmen. Ich bin auch sicher, da fehlt die Ernsthaftigkeit. Die Frage ist nur, wie kann die entstehen und warum fehlt sie?


HvV: Und wenn ich Ihre theologische Herkunft bemühe und auf die Idee komme: Das Bemühen um Zivilgesellschaft sei so etwas wie eine säkulare Sinnsuche?

RG: Es ist vielleicht eine säkularisierte Antwort auf diese Defizite. Und da würde ich im Kern und heimlich den Verdacht haben, dass Zivilgesellschaft die Defizite nicht ersetzen kann. Sie kann ein Stück weit jemanden füttern, aber der große Hunger, die große Sehnsucht nach Sinn kann so nicht zufriedengestellt werden.


HvV: Zivilgesellschaft auf Augenhöhe neben Staat und Wirtschaft oder Zivilgesellschaft als neue Nachbarschaft zwischen Familie und Staat? Das sind doch zwei verschiedene Anschauungen, oder ist das eine?

RG: Es ist diffus, und es gibt eine Verschwisterung. Es wird empfunden, dass etwas verschwunden ist. Die Rede von der Zivilgesellschaft ist ein Versuch, das wieder herbeizuholen. Ob das klappt, ist sehr die Frage.
Wenn man sich in der Demenzthematik die Zahl der freiwillig Engagierten anschaut, so ist die nicht sehr groß. Auf der anderen Seite gibt es ein Phänomen, das ich bisher nicht verstehe: Es gibt in der Hospizarbeit 80.000 Freiwillige in Deutschland, 95 Prozent Frauen. Eine Freundin arbeitet im Kinderhospiz in Gießen, die haben dort keine Schwierigkeit, Ehrenamtliche zu finden. Die Themenbereiche in der Zivilgesellschaft haben also eine stark unterschiedliche Attraktivität.


HvV: Erst hieß es, Individualisierung sei das Ende der sozialen Bewegungen, nun heißt es, wir seien in einer Renaissance der Empathie. Was soll man da glauben?

RG: Die Krisen ermöglichen manches, was zuvor undenkbar schien. Und die Menschen könnten das Empfinden für sich entdecken, dass es schöner ist zu leben, wenn man den Nachbarn wahrnimmt. Allerdings gibt es Unterschiede. Der 30-jährige Bungeespringer ist in einer Lebensphase, wo das Mitmenschliche vielleicht nicht so eine große Rolle spielt. Aber die Älteren haben das deutliche Gefühl, dass Golfspielen allein es nicht bringt. Da sehe ich viele. Ein Bekannter von mir, der mal Direktor in der Bundesbank war, hat sich jetzt sehr stark für Afrika-Projekte engagiert. Müsste er nicht, aber es ist der Versuch, etwas auf die Beine zu stellen.


HvV: Spielt die wachsende Erkenntnis eine Rolle, dass Zuwarten oder Protestnoten bei staatlichen Stellen Überstände nicht beseitigen, sondern Handeln gefragt ist?

RG: Das würde ich so sehen. Solches Engagement hat ja in den USA eine lange Tradition.


HvV: Wir haben als 68er damals gemeint, bevor sich hier die Verhältnisse nicht ändern, brauchen wir uns schon mal gar nicht zu ändern…

RG (lacht): Wenn ich Vorträge zum Thema Hospiz oder Demenz halte, sind die Säle gerammelt voll. Ich höre, wie man fragt: Was mache ich noch mit meinem Leben? Die Kinder sind weg. Nur den Rasen mähen, das kann es nicht sein. Und das empfinde ich als etwas sehr Schönes und Zukunftsträchtiges.


HvV: Ehrenamt, Bürgerengagement, Freiwilligkeit –das sind bekannte Größen. Aber Zivilgesellschaft? Brauchen wir nicht mehr Politisierung, damit man auch Sinn für Zusammenarbeit, Koordination, gemeinsames Wirken und handfeste Interessenvertretung entwickelt?

RG: Wir haben eine etwas apokalyptische Krisenstimmung. Nicht nur im Zusammenhang mit Finanzkrise gibt es das grummelige Gefühl, dass wir irgendwo an einer Kante stehen, dass da etwas bricht. Das ist das eine Element. Das andere Element ist die Vorstellung, wie es weitergeht: Man hat eine grüne Modernisierung des Kapitalismus vor Augen. Die meisten würden das nicht so nennen, aber das ist es, worum es im Moment geht. Und diese ist mit der Vorstellung verbunden, dass uns das vor der Krise rettet. Das ist es, was die Gemüter bewegt.


HvV: Dagegen Optimismus: Wenn ich lese, was Sie in der Aktion Demenz fordern, die demenzfreundliche Stadt nämlich, dann sagt man sich: Das was dabei rauskommt, ist eigentlich für jeden gut und offenbar für einige überlebensnotwendig. Es ist rundum vernünftig.

RG: Es geht darum zu begreifen, dass die Demenz symbolisch und faktisch für eine Phase des Lebens steht, der wir alle ausgeliefert sein können. Gibt es nur die Antwort darauf: weginstitutionalisieren, und dann sehen wir das nicht mehr, was vor allem für die lange Zeit, in der man mit der Demenz gut leben kann, eine dramatische Fehleinschätzung wäre? Es muss nach Alternativen gesucht werden, und einige haben sich bereits erfreulicherweise auf den Weg gemacht.


HvV: Wofür Sie plädieren, das ist Integration statt Wegschluss. Der „Dorfdepp“, der die Straße fegt und von jedermann freundlich behandelt wird. Muss man da nicht aufpassen, dass man nicht die Gewinne der Individualität zugunsten einer nicht mehr realisierbaren Dorfidylle eintauschen möchte?

RG: Wir werden begreifen müssen, dass eine neue Form von Gemeinschaft auch ein Stück Einschränkung sein muss. Die radikale Individualisierung verträgt sich einfach nicht gänzlich mit den Notwendigkeiten gemeinsamen Lebens. Und das Thema Demenz ist in Zukunft nicht mehr als ein rein familiäres Thema abzuhandeln, weil das soziale Milieu nicht mehr da ist. Meine Generation kommt da vielleicht noch einigermaßen ungeschoren davon, aber schon für die nächste Generation ist ganz klar: Die Familie wird es nicht sein, das Geld wird nicht da sein.


HvV: Ist da Zivilgesellschaft auf der Basis reiner Freiwilligkeit nicht überfordert? Brauchen wir Pflichtjahre im Zivildienst?

RG: Das wird vielleicht der Notausgang sein. Aber so lange es geht, sollte man vom eigenen Aufbruch reden und nicht der Verordnung das Wort. In Baden-Württemberg gab es hier und da ein Punktesystem, das lokal auch geklappt hat. Da hat man Punkte erhalten, wenn man einen Älteren gepflegt hat, und die Punkte konnte man später wieder einlösen. Das ist aber eine Ökonomisierung der Zivilgesellschaft, und ich glaube, das tut uns nicht gut. Meine Hoffnung ist immer noch, dass das notwendige und wünschenswerte Mehr an Zivilgesellschaft aus der Freiwilligkeit kommt.


HvV:  Lässt sich Bürgerengagement bei voller Freiwilligkeit entscheidend ausweiten oder brauchen wir Pflicht zum Engagement, also Zivildienst im wahrsten Sinne des Wortes, bei Freiwilligkeit der Art des Engagements?

RG: Das ist ein ganz schwieriger Punkt. Vielleicht wird es gar nicht anders gehen. Es sei denn, es gibt den überraschenden Aufbruch in der Gesellschaft. Und das ist das, wovon wir reden und was auch hier und da passiert. Aber wenn man sich die Pflegesituation in 20 Jahren vorstellt, dann ist klar, dass die Modelle, mit denen wir jetzt arbeiten, überhaupt nicht funktionieren.


HvV: Brauchen wir nicht für das bessere Zusammenspiel von Freiwilligkeit und Hauptberuflichen eine Art zivilgesellschaftliche Gesinnung bei allen Beteiligten ?

RG: Bei der Pflegesituation ist die Belastung des Personals so groß, dass sie für Zuwendung keine Zeit mehr haben. Und deswegen mischen sich da Freiwillige ein. Und die mögen die Profis oft auch nicht, weil die natürlich den Ablauf stören.


HvV: Es gibt das Argument der Arbeitsplatzverdrängung und das Argument der fehlenden Ressourcen zur Steuerung. Die Präsenz von Bürgern stört, weil die über die Schulter gucken.

RG: Es muss ja keine Kontrolle sein, sondern Aufmerksamkeit. Ich glaube, dass wir ohne Freiwilligkeit nicht über die Runden kommen.


HvV: Sie wenden sich gegen Dämonisierung, Ausgrenzung und Verharmlosung von Demenz. Was ist am schlimmsten?

RG: Da läuft im Moment ein Prozess der Verharmlosung. Es wird nicht gesehen, was für ein ungeheures soziales Drama Demenz ist.


HvV: Besteht nicht eine Gefahr bürgerlichen Engagements, beim Entdämonisieren der Demenz an ihrer Verharmlosung mitzuwirken?

RG: Das meine ich auch. Ich bin gerade dabei zu versuchen, Forschungsgelder zu kriegen für ein Thema: Was wissen wir eigentlich darüber, wie der Alltag für einen Menschen mit Demenz verläuft? Es gibt viele Studien über Demenz im Pflegeheim. Aber was in der Familie passiert, wie sich die Rollen der Beteiligten verändern, wie viel Befreiung und Knechtung etc. es gibt, das alles ist noch ein weißer Fleck. Wir müssen darüber mehr wissen, um verändern zu können. Wir müssen uns auch darüber klar sein, dass auch Stimmen auftauchen werden, die nach radikalen Lösungen suchen à la Holland: Da gibt es die Euthanasie. Ich bin neulich in einem Pflegeheim gewesen, einer sogenannten Pflegeoase, wo zwölf Frauen über Jahre im Endstadium der Demenz liegen, für nichts mehr ansprechbar. Und mein erstes intensives Empfinden war: Das will ich für mich nicht! Und gleichzeitig würde ich mich davor fürchten, diese Situation öffentlich zu beschreiben, weil da die Gefahr sehr groß wäre, dass gesagt wird: Nun macht doch mal Schluss mit denen. Ich würde ein solches Leben für mich vielleicht nicht wollen, aber es ist fundamental festzuhalten, dass wir daraus nicht die Konsequenz ziehen, diese Menschen auch aufzugeben. Aber die Frage ist auch, was bedeutet es eigentlich, dass wir Mittel in die Hand bekommen haben, so ein Leben aufrechterhalten zu können?


HvV: Sie haben auf der anderen Seite selber geschrieben oder zitiert am Beispiel von Walter Jens, es sei doch durchaus offen, ob er heute mit einem Teddybär oder vormals mit einem Buch glücklicher ist.

RG: Diese Diskussion vor ein, zwei Jahren, in der es hieß, das seien doch nur noch lebende Hüllen, war falsch. Wer so redet, bereitet den Weg für Gewalt. Aber die Frage bleibt, ob und wie wir es ertragen können, dass uns das, was uns das Wichtigste erscheint, unsere Autonomie nämlich, genommen wird.


HvV: Wie haben wir eine Chance, eine bürgerfreundliche, der Zivilgesellschaft aufgeschlossene Gemeindeentwicklung in Gang zu setzen? Wie kommen wir auf den Weg, der irgendwo zwischen neuer Stadt und altem Dorf verläuft?

RG: Hier in X, einem kleinen Dorf bei Gießen, steht ein Einfamilienhaus neben dem anderen, alle in derselben Zeit gebaut. Überall sitzen die älteren Ehepaare, die Kinder sind weg, die Häuser sind viel zu groß. Und die sagen, dass sie eigentlich zusammenziehen müssten. Aber die architektonische Struktur erschwert das. Die kann man nicht einfach und automatisch herstellen.
Es ist für jeden erkennbar, der bereit ist nachzudenken, dass wir ganz dringend solche Strukturänderungen beim Bauen und beim Wohnen brauchen. Und gleichzeitig taucht die Frage auf, ob wir Freundschaften hinkriegen, die stabil sind und die uns auch nicht aufgekündigt werden, wenn es uns schlecht geht.


HvV: Der Begriff der Wahlverwandtschaft?

RG: Ganz genau! Im schönsten Sinne!


HvV: Wenn Sie jetzt, was Sie ja nicht gern tun, der eigenen Generation die Leviten lesen würden: Wie würde sich das anhören?

RG: Wir brauchen keinen Alten-Lobbyismus, sondern es geht darum, dass die Alten den Blick auf die jüngeren Generationen werfen müssten und fragen: Können wir etwas für euch tun, oder sind die Abgründe zwischen uns so tief, dass da nichts mehr passiert? Aber da wäre auch die Frage: Was haben wir eigentlich zu bieten? Wann, wenn nicht jetzt in dieser langen Phase zwischen dem Beginn des Ruhestands und vielleicht einer Pflegebedürftigkeit müssten die Alten entdecken, dass dies eine Phase ist, wo sie zwar auch auf ihrem Fitnessrad sitzen dürfen. Aber wenn das das Einzige ist, ihr eigenes Wohlergehen, dann ist das zu wenig. Wir ahnen, dass uns ein Auszug aus dem Ägypten der Wachstumsgesellschaft bevorsteht. Den müssen Alt und Jung wohl gemeinsam bewältigen. Das ist das, was ich mir erhoffe, und wo man versprechen kann, dass es zwar ein schwieriger Weg ist, aber wo am Ende, um im Bild zu bleiben, das gelobte Land wartet. Eine andere Lebensfreude. Der Aufbruch beschenkt einen auch reich. Wenn das nicht passiert, dann fällt es uns als Älterwerdenden oder schon Alten natürlich auf die Füße, weil wir das hart und schmerzhaft spüren werden, es sei denn, wir haben sehr, sehr viel Geld.


Anmerkung: Das Gespräch fand am 11. August 2011 in Langgöns bei Gießen statt. Mehr über Reimer Gronemeyer auf seiner Homepage www.reimergronemeyer.de. Mehr zur NGO Aktion Demenz e.V., deren Vorsitzender Gronemeyer ist, unter www.aktion-demenz.de.

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