DDR- Geschichte(n): Zwei Frauen erzählen i

11 Sep
11. September 2017

Blog 158/September 2017

Guten Tag
Mein erstes Teekesselchen ist zumeist schwarz und gehört in den Schulbereich. Mein zweites Teekesselchen gehört ebenfalls in den Schulbereich und entscheidet über Lebenschancen.
Mein erstes Teekesselchen enthält Namen und Bemerkungen wie Tadel und Verspätungen. Mein zweites Teekesselchen enthält Namen und hinter den Namen Buchstaben.
Mein erstes Teekesselchen, das will ich jetzt verraten, ist ein Klassenbuch, so wie es an jeder Schule geführt wird. So jedenfalls kannte ich es aus meiner Schulzeit in Hannover. Ob mittlerweile Klassenbücher dort abgeschafft und durch Computer ersetzt sind, weiß ich nicht, aber lange wird es auf jeden Fall nicht mehr dauern. Mein zweites Teekesselchen ist auch ein Klassenbuch, aber eines, wie es in der DDR geführt wurde. Ein KLASSENbuch.
Zwei Frauen erzählten davon unabhängig voneinander. Es war bei der Weltausstellung der Reformation in Wittenberg und beide stammten aus der Stadt. Sie hatten noch mehr Übereinstimmungen. Sie waren beide in der zweiten Hälfte ihrer Sechzigerjahre und waren als Schülerinnen konfirmiert worden und nicht zur Jugendweihe gegangen. Beide hatten später in medizinischen Berufen gearbeitet. Damit sind die Übereinstimmungen aber auch schon erschöpft.
Die eine sitzt heute im Rollstuhl und macht sich Sorgen, wie lange sie ihre kleine Wohnung noch bezahlen kann. Denn sie ist in ihrem

Beruf berufsunfähig geworden und hatte nie viel verdient. Entsprechend schmal ist ihre Rente. Nun ist gerade am elektrischen Rollstuhl etwas kaputt und das wird die Krankenkasse nicht voll übernehmen, sorgt sich die Frau. Die Miete steigt. Der Betrag, der ihr zum Leben bleibt, wird immer geringer.
Die andere Frau macht den Eindruck einer vergnügten Best Agerin. Ihr geht es offensichtlich gut. Die erste Frau war Operationsschwester. Sie sagt, dass sie ihren Beruf gerne ausgeübt hat. Allerdings habe sie ihren kaputten Rücken, der zur vorzeitigen Berufsunfähigkeit führte, wohl vor allem auch ihren Beruf zu verdanken. Sie wäre gerne Ärztin geworden und ist sich sicher, dass sie Studium und Beruf mit Bravour hätte meistern können. Genau diesen Beruf hat die zweite Frau ausgeübt. Sie war Zahnärztin. Sie durfte studieren. Moment mal, werfe ich ein, Sie waren doch nicht zur Jugendweihe? Nein, erwidert sie, aber ich hatte ein A in Klassenbuch hinter meinem Namen. Du musstest ein A oder ein I haben, dann warst du auf der sicheren Seite. Mein Vater war Arbeiter, deswegen das A. I stand für Intelligenz. Jetzt erinnerte ich mich: Die erste Frau hatte erzählt, dass ihr Vater gefallen sei und die Mutter sich und ihre Tochter durch Schneidern durch zu bringen versuchte. Das sei eine schwierige Zeit gewesen. Ich kapierte: Wer auf eigene Rechnung schneidert, gehört nicht zur Arbeiterklasse und natürlich auch nicht zur Intelligenz. Wenn deren Kinder dann durch Konfirmation zeigen, dass sie sich der neuen Zeit versperren, verdienen sie keinen Studienplatz. Ein Klassenbuch ist ein Klassenbuch. Und jede Lehrerin, jeder Lehrer sieht, welche Schülerinnen, welche Schüler zu fördern sind und welche nicht. An letzteren kann man dann in der Klasse vorführen, was sozialistische Wachsamkeit erfordert. Und kann so Lebensweichen stellen, in die eine oder die andere Richtung.
Das Klassenbuch der DDR ist Geschichte, aber keine bewältigte. Die tapfere Frau im Rollstuhl kann ich nicht vergessen.

Mit besten Grüßen
Henning v. Vieregge
P.S.

Diese Geschichte ist eine Antwort auf die Frage, was bleibt von der Weltausstellung. Zwei weitere Antworten in Bildform aus der Ausstellung „Luther und die Avantgarde“

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