Brief Nr. 4/2010: Leben und sterben wo ich hingehöre – Eine Begegnung mit Klaus Dörner

09 Feb
9. Februar 2010

Klaus Dörner beim Gespräch in seiner Hamburger Wohnung

„Leben und sterben wo ich hingehöre“. Ich sage ihm, ich finde den Titel Ihres Buches hinreißend. Die zentrale Aussage eines Buches in sechs Wörtern. Das könne jeder verstehen. Er habe an dieser Zeile fast so lange gefeilt wie am Buchtext, antwortet Klaus Dörner. Und nun würde er zumeist auch unter dieser Überschrift zu Vorträgen eingeladen. Was zeige, daß sie trage. „Er hat 70 Veranstaltungen im ersten Halbjahr 2010“, erzählt seine Frau, als Dörner für ein Telefonat aus dem Zimmer ist. Helfen Sie ihm dabei?, will ich wissen. „Ich halte ihm den Rücken frei“, sagt sie. Um mit 76 Jahren so viele Veranstaltungen kreuz und quer in der Republik zu machen, brauchst du jemanden, der dich so unterstützt, denke ich mir. Und dann brauchst du Vitalität und eine Botschaft, die die Leute neugierig macht. So wie mich. Ich habe Klaus Dörner beim Bremer Kirchentag erlebt, wie er einen Saal voller Grauköpfe zum Tosen brachte. Dabei sind seine Aussagen unbequem. Ich war fasziniert und habe ihn angerufen und um ein Gespräch gebeten. Er lud mich in seine Wohnung in Hamburg Eppendorf ein, bestimmter Tag bestimmte Uhrzeit. Im November sprachen wir, nun ist Februar.

Alte Menschen wollen möglichst lange in den eigenen vier Wänden, in der vertrauten Umgebung bleiben, hört man allenthalben. Und erlebt es bei den eigenen Eltern und Verwandten und denen der Freunde. Niemand will ins Heim. Es sollte alles getan werden, um das sicher zu stellen. Allein eine solche Forderung konsequent umgesetzt hätte tiefgreifende Konsequenzen. Wie läßt sich verhindern, daß Ämter, Geschäfte, Ärzte, Gottesdienste, Kinos usw. aus der Fußwegentfernung der Menschen verschwinden? Was muß getan werden, um den gegenteiligen Trend der letzten Jahre umzudrehen?

Klaus Dörner gibt sich aber mit dem „möglichst lange in den eigenen vier Wänden“ nicht zufrieden. Bei ihm lautet die Forderung „bis zuletzt“. Und daran schließt sich eine weiter Forderung an, die Dörners Überlegungen vollends ins Reich der Utopie zu versenken scheinen. Mit dieser Forderung sprengt er die freundliche Welt der neuen Alten, wie sie ein Charmeur wie Henning Scherf so hinreissend und verdienstvoll beschreibt. Dörner fordert nämlich, immer „vom Letzten her“ zu denken und zu handeln. Erst dann, so die Erfahrung des langjährigen Leiters einer großen Anstalt für psychiatrisch Kranke, komme man zu den wirklich richtigen Lösungen. Dörner hat seine Anstalt aufgelöst, die Kranken heimgeschickt. „Deinstitutionalisierung“ nennt er das.

Alle, die wollen, sollen dort sterben, wo sie hingehören, auch die chronisch Kranken und die Dementen. Die dementen Singles sind die letzten, an sie muß zuerst gedacht werden, fordert Dörner. Wir sollen wieder lernen, „im gesunden Mix“ von Gesunden und Kranken, von Alten und Jungen, von arm und reich und schlau und weniger schlau zu leben. Wie früher, bevor das Separieren und Expedieren der Kranken, Behinderten und Alten begann.

Wie soll das heute gehen? Die Gegenfrage lautet: Wie soll es gehen im bisherigen System? Wir werden in der Bundesrepublik in den nächsten Jahren einen Hilfebedarf haben wie nie zuvor. Staat und Familien werden den nicht bewältigen können. Darin sind sich alle Experten mit Dörner einig. Es fehlen Menschen und Geld. Denn es wird immer mehr ältere Menschen geben, die immer länger leben und hilfebedürftig werden. Und die am liebsten leben und sterben wollen, wo sie hingehören. Und denen dies heute zumeist nicht vergönnt ist.

Hier kommt der von Klaus Dörner geprägte Begriff vom „dritten Sozialraum“ ins Spiel. Erster Sozialraum ist die Familie, zweiter der Staat. Dazwischen aber gibt es einen Raum, dessen Bedeutung in den letzten hundert Jahren durch professionelle Arbeitsteilung und staatliches Tätigwerden stetig abgebaut wurde: der Raum der Nachbarschaft, geprägt durch Kommunalverwaltung, Vereine, Kirchengemeinde, Nachbarschaftshilfe. Dörner spricht von einem „neuen Hilfesystem“ aus Profis, die aus den Institutionen wieder vor Ort gehen, und neu belebter bürgerschaftlicher Selbsthilfe. Er sieht eine Zäsur zum Besseren seit ungefähr 1980. Er nennt unzählige ermutigende Beispiele und fordert mehr. Von Kirchengemeinden erwartet er die Wiederzusammenführung von Gottes- und Menschendienst. „Linke Lunge und rechte Lunge, nur so ist der Mensch ganz und kann atmen“ habe ein katholischer Bischof neulich geschrieben. Ein gutes Bild, lobt Dörner, der selber theoretisch und empirisch fundiert und sehr verständlich redet und schreibt. Als Praktiker kann er auf seine Erfolge verweisen. Das alles macht es für seine Kritiker so schwierig, ihn als Phantasten abzutun. Er ist ungemein lernoffen. Den Begriff „Nachbarschaft“ habe er lange vermieden, für belastet gehalten, nun sehe er das anders, erzählt er. Ich berichte von Gesprächen mit türkischen Einwanderern, die in deutschen Städten Sehnsucht nach dem Leben in ihren türkischen Dörfern mit der dort selbstverständlichen Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft haben. „Das ist es“, ruft Dörner, „die Suche nach dem dritten Weg“. Dem richtigen Weg also gegen die Anonymität der Städte und die Indiskretion des Dörfer. Klaus Dörner stopft sich seine Pfeife, Kater Zorro läßt sich streicheln. Er ist vereinsamt, erfahre ich, seine langjährige Hundefreundin Leonie verstarb im November. „Es gibt hilfs- und helfensbedürftige Anteile in jedem von uns. Die wollen in eine ausgeglichene Bilanz.“, sagt Dörner.

Im Menschen, zwischen Menschen und zwischen Mensch und Tier, denke ich. Gibt es am Ende mehr Menschenanteile, die helfensbedürftig sind als hilfsbedürftig? Aber wie bekommt man es hin, daß mehr Menschen sich trauen, wie gute Nachbarn zu sein, oder auch wie Wahlverwandte, wenn es, wie so oft, an naher Verwandtschaft mangelt?

Klaus Dörner sagt zu, im Herbst nach Frankfurt und Niederhöchstadt zu kommen. Was er über uns erfahren hat, hat ihn neugierig gemacht. Und in Frankfurt kennt er viele gute Ansätze zur Umsetzung seiner Forderung „Leben und sterben wo ich hingehöre.“ (Paranus-Verlag Neumünster 2007)

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